09 2003 Souveränität der Präsenz. Real Public Space als SituationIm November des letzten Jahres sind wir nach Buenos Aires gekommen, um ein Projekt mit dem Arbeitstitel ExArgentina[1] zu beginnen. Das Projekt verstand sich zunächst als eine Form von ökonomiekritischer Untersuchung zur Wirtschaftskrise in Argentinien und zu den internationalen Lobbys, die davon profitieren. Unsere Investigation stützt sich als künstlerische Praxis auf den Begriff der Genealogie, wie er von Foucault entwickelt wurde – eine partikulare und lokale Kritik, die wie ein Bremsklotz auf globale und zentrale theoretische Produktionen wirken würde. Wenn Foucault von einem Aufstand des unterdrückten Wissens mit den Methoden einer nicht effektivierbaren Wissenschaft spricht, dann geht es in erster Linie um die Sichtbarkeit dieses Wissens. Diese Nichteffizienz der Methoden, die sichtbar machen, scheint übertragbar zu sein auf das Reservoir von künstlerischen Kategorien, die ihre optischen Instrumente in ihrer Anmaßung von Autonomie sehr fein geschliffen haben. Die Methoden der Sichtbarmachung dieses Wissens sind nicht austauschbar, sondern sie sind wie die Inhalte Ausdruck einer Involviertheit. Es geht also um keine letztgültige Analyse, eher geht es um die Suche nach einer Darstellungsweise, wie man das Wahrgenommene und die Schlussfolgerungen, die Empörung und die Solidarität so erinnerlich halten kann wie ein Gedicht oder ein Bild, das erst in dieser Form zur "aktuellen Taktik" werden kann.
Bewegung sichtbar machen Wir blieben sieben Monate in Buenos Aires, reisten auch nach Posadas, Tucuman, Cordoba und Bahia Blanca. Nach dieser Zeit war es klar, dass es nicht nur um eine Form der Untersuchung geht, sondern darum, wie eine soziale Bewegung geschildert werden kann, die hier so eindringlich präsent ist und in die viele der bisherigen TeilnehmerInnen des Projektes involviert sind. Wir stehen also vor dem Problem, wie wir diese Bewegung schildern können, und zwar in einem hegemonialen Bereich, der so sehr und so häufig die Bilder ausbeutet, ihre Mitteilungen domestiziert und sie einer Universalität unterwirft, die jede Aussage unsichtbar macht. Wir stehen auch vor der Herausforderung, uns an eine integre künstlerische Praxis zu erinnern, die beweist, dass es möglich ist, solche Bewegungen in Würde sichtbar zu machen. In Argentinien begannen wir, Reisebriefe zu schreiben – wie dieses altmodische Literaturgenre aus dem 18. Jahrhundert, als die Briefe eine Art Spiegelfunktion für die eigene Gesellschaft hatten. Das ist genau das, was die aktuelle Beschreibung der Zustände in Argentinien dem europäischen Blick antut. Ein Teil des letzten Briefe scheint uns ein präzise Beschreibung von dem zu sein, was "real public space" sein könnte, wenn öffentlicher Raum nicht mehr existiert, weil er komplett besetzt ist von privaten ökonomischen Interessen oder der Exekutive. Für uns ist "real public space" kein Ort, sondern eine Situation. Im Brief beschreiben wir die Besetzung des öffentlichen Raums durch die Wahlkampagnen und – am Ende – eine dieser seltenen Situationen von "real public space". Wir schrieben den letzten Brief, als wir schon wieder in Deutschland waren. So… "… beginnen wir die Erzählung der Eindrücke vom Ende her und von dieser neuartigen Erfahrung von Entfernung, die so ist, als ob ein optisches Gerät nun nicht mehr taugt und neu eingestellt werden müsste. Aber man kommt mit dem Einstellen nicht nach, weil man sich selbst währenddessen immer weiter entfernt. Oder es ist so, wie von dem Hintersitz eines Autos aus durch die Heckscheibe nach hinten zu starren – in diese rasende Verkleinerung der Dinge, Personen und Ereignisse bis zu ihrem bloßen Punktsein.
Kampagnen als totale Besetzung des öffentlichen Raums An
diesem Ende ist Kirchner mit 22 Prozent der Stimmen
Präsident von Argentinien. Trotz 2 Prozentpunkten mehr
an Stimmen hat Menem auf eine Kandidatur zum zweiten
Wahlgang verzichtet. Auf unserem Bildschirm in Berlin
bleiben die Gesichter vom Sieger und vom Verlierer so
undeutlich wie in Live-Bildern von Personen in einer
Raumkapsel. Sie werden von nervösen Linien attackiert,
und sie erinnern uns sofort an die Porträts von Menem,
die erst ganz kurz vor der Wahl von den Kampagnenmachern
zugelassen wurden, um eine Beschmierung zu verhindern.
Es war ein abgewandtes Gesicht im Profil, von eben diesen
horizontalen Linien durchzogen, so als ob die Kamera
nur mit äußerster technischer Anstrengung diese Gestalt
einfangen konnte. So vielbeschäftigt ist diese Person,
die gerade aus einem Wagen in ein Gebäude eilt. Diese
Anstrengung tragen nun beide Gesichter. Aber vor dem
Bildschirm in Berlin ist dies zugleich nur ein Phänomen
von Entfernung und Gleichgültigkeit – irgendwelche Präsidentschaftswahlen
in irgendeinem unruhigen, bankrotten Land. Wir erinnern uns nun an einzelne Wahlplakate mit ihrer Komik. Rodriguez Saa stand vor Raffinerien mit der Überschrift ‚100 Prozent Argentina‘, obwohl der Verkauf der Raffinerien an internationale Konzerne die erste Welle von Massenarbeitslosigkeit verursachte. Kirchner versprach ‚en serio‘ (im Ernst) ein Land mit nationaler Industrie und einem funktionierenden Gesundheitssystem. Menem, derjenige also, der eine Symbolfigur für ‚die Krise‘ ist und der wegen Waffenschieberei und Korruption voriges Jahr unter Arrest stand, bewarb sich als Una Marca Registrada (eine eingetragene Marke). In Uruguay gibt es einen Badeort, der Punta del Este heißt und der zum größten Teil aus Apartmenthäusern besteht, in denen reiche ArgentinierInnen wohnen. Dort sahen wir einen Pavillon, der ganz zugeklebt war mit Menem-Plakaten, ein Zirkuszelt mit einer geklebten blauweißen Papierhaut und gekrönt von der Neonschrift ‚Menem‘ 2003. Es kam uns so vor, als ob diese Plakate mit den Filmplakaten von Familien- oder Anwaltsfilmen vor den großen Multiplexkinos in den Einkaufscentern austauschbar geworden wären, d.h. mit dem kollektiven Unterbewusstsein von Doris Day, von Milchflaschen auf dem Rasen vor dem Bungalow, von lichtdurchfluteten Versicherungsgebäuden, Schulen, Hospitälern und Fabriken, von einem nationalen Wohlfahrtsstaat, der die Bevölkerung pflegt und braucht. Diese Versorgung hat ihre notwendige Ergänzung in der Bedrohung des Wohlstandes von außen, im Ernstfall für Feinde von innen und in einer Technik des Krieges, an dessen Produktion die Familie beteiligt ist. So weit zu dem Traum
der Wahlplakate in ihrer Nachbarschaft zum Kino. Wenn
dieser Traum die Wahrheit sein soll, dann nicht wegen
einer Nähe zur Realität, sondern wegen der Macht, die
seine öffentliche Präsenz durchsetzt. Die Wahrheit ist
unumstößlich, solange die Kampagne Wahlen ‚rollt‘ (wie
es in einem altmodischen Marketingdeutsch heißt). Dies
– diese unfehlbare Harmonie der Kampagne – wird finanziert
von IWF und Weltbank, weil ihr Ablauf sich selbst beweist.
Der IWF hat den Wahlboykott von vorigem Jahr als Mangel
an Bildung interpretiert. Das Geld für die Parteiapparate
ist also als eine Bildungsmaßnahme gedacht. Es ist sicher, dass niemand an die Versprechungen der Plakate glaubte. Vielleicht war die Entscheidung, zu wählen und die Wahlscheine nicht in Unordnung zu bringen, nicht einer Logik der Verheißung, sondern einer Logik jener Angst zu verdanken, die die Kampagnen erregten wegen ihrer Allgegenwärtigkeit und wegen der Drohungen, mit denen sie eskortiert wurden. In der Fernsehwerbung wurden oft Armenviertel wie eine Ermahnung gezeigt, es nicht dahin kommen zu lassen und die eigene Haut noch einmal mit der eigenen Stimme vor einem Sein in dieser Armut zu retten. Uns kam es so vor, als ob diese Warnung von den reichen Funktionären an eine Schicht von kleinen Leuten gerichtet wurde, die ihre frische Dezimierung noch spürten und deren ehemalige Nachbarn die letzte Welle von Obdachlosen bildeten. Sie halten wie eine schmerzhafte Erinnerung den Raum in der Stadt besetzt.
Kampagnen der Vertreibung Also
nun zur Stadt selbst, zu diesem physischen, von Armut
besetzten Raum. In der Stadt begann gleichzeitig mit
der Macht, Fiktionen präsent zu machen, eine Kampagne
der Vertreibung, eine Kampagne der Auslöschung von allen
Formen der Selbstorganisation, die als Symptom der Krise
betrachtet wurden. Zuerst wurden die besetzten Häuser
in Buenos Aires geräumt, die als Orte für Stadtteilversammlungen,
Volksküchen, kulturelle und politische Initiativen dienten.
Indymedia, die Chronistin dieser Vertreibungen und selbst
vertrieben bei der Räumung einer ehemaligen Bankfiliale,
zitiert Menems Versprechen: ‚die Straßen von Kommunisten
und anderen Delinquenten zu säubern, um das soziale
Chaos zu stoppen‘, die mit ähnlichen Äußerungen der
Konkurrenten austauschbar sind.
Ein Sänger als Souverän seiner Präsenz Die
Räumung der Anzugfabrik Brukman ist das zentrale Ereignis
im Wahlkampf von Buenos Aires. Brukman gehört zu den
ungefähr 180 selbstverwalteten Betrieben des Landes,
die täglich die Möglichkeit einer Produktion ohne Chef
und ohne Eigentümer beweisen. Am Karfreitag drangen
um 2 Uhr nachts circa 150 schwer bewaffnete Polizisten
in die Fabrik ein, auf Befehl des neuen Richters Grimoldi,
der ein Mitglied der Junta war. Die Clique des Präsidenten
Duhalde hatte diesen Richter in den Tagen zuvor in das
Amt eingesetzt und die Akten von Brukmann für geheim
erklärt. Sie bewies wieder einmal ihre schnelle Bereitschaft,
Politik zu militarisieren. Die Arbeiterinnen konnten
in kurzer Zeit eine große Menge von Personen mobilisieren,
die gegen diese Räumung vier Tage lang protestierten,
bis die Polizei die 7000 Menschen vor der Fabrik vertrieb,
verfolgte und viele gefangen nahm. Es ist aber nicht richtig, zu sagen, dass ein Schauspiel aufgeführt wurde, in dem nach und nach all diese Instanzen die Bühne betreten, argumentieren und ihre Verbeugung machen. Man würde dann alle gleichsetzen: das Arbeitsministerium, verschiedene Polizeichefs, Richter, Staatsanwälte, Abgeordnete, Anwälte, Journalisten, Arbeiterinnen, Männer, Frauen und Kinder. Man würde alle als bloße Spieler vor der Kulisse von Macht abtun, die schon am ersten Tag ihre Polizeitruppen aufgestellt hat. Bevor man von Aufführung, Zweck und Ausgang spricht, muss man sich erinnern an einzelne Tage oder Stunden, an ihre Empörung und Schönheit. Wir erinnern uns zum Beispiel an eine Nacht, in der ein großes Tango-Orchester vor den Absperrungen spielte, mit denen die Polizisten die Fabrik blockierten. Es war anscheinend direkt vom Konzertsaal dorthin gekommen. Der Sänger benutzte nur dann ein Megaphon, wenn bestimmte Stellen des Liedes an die Polizisten gingen. Er sang dann eigenartig leise und gespreizt. Es war klar, dass der Sänger ein Souverän seiner Präsenz war, dass er seine Präsenz nur zum Teil der Beschimpfung in das Verhältnis zur Staffage von Macht stellte. Den großen Rest behielt er denen vor, die auf den Bordsteinkanten der Straße saßen oder auf dem Rasen im nah gelegenen Park."
Resümee Wie viele andere sind wir damit beschäftigt, Kohärenzen herzustellen zwischen politischem Aktivismus, politischer Theorie und politischer Kunst. Aber oft kommt uns das vor wie ein Raum, der nur in unserem eigenen Kopf existiert, oder so als ob es eine Einbahnstraße von politischen Informationen und Debatten gibt, die wir im Bereich der Kunst aufnehmen und zeigen können. Vielleicht ist diese Vermutung auch in sich falsch, weil sie von einem Austausch ausgeht, der von Identität zu Identität geschmiedet wird. So als ob wir als "Künstler" von "Argentinien" berichteten vor "Hausbesetzern", "Medienaktivisten" und "Philosophen". Nehmen wir diese Identitäten als gegeben an, so ordnen sie sich automatisch zu einer Pyramide, die auf dem Kopf steht. Die Aktivisten würden die untere Spitze bilden – sozusagen "das Reale", von der eine Linie zur Theorie abzweigt – eine normative Beziehung, in der die Theorie die politische Aktion beurteilt. Die andere würde zur Kunst abzweigen – eine Beziehung der Verwertung, in der die künstlerische Arbeit sich mit dem gesellschaftlichen Sinn der politischen Aktivität auflädt. Sie wären zu vergleichen in ihrem Aufbau mit den Gemälden in dem Raum des Istituto per gli Studi Filosofici, in dem wir beim Workshop in Napoli saßen, die von den banalen Wolkenrändern immer mehr in die Höhe der Geisteswelt verwiesen. Diese Schematisierung wird schon von den verschiedenen Tätigkeiten und Engagements der einzelnen Personen, die berichten, erschüttert. So sind wir hier nicht als "Künstler" aufgetreten, sondern eher als Reisende, die einen Bericht zur Zurichtung und Freisetzung von öffentlichem Raum in Argentinien vortragen. Und es wäre utilitaristisch, nun zu fragen, wer etwas davon gebrauchen konnte, ob Adressen ausgetauscht oder Kooperationen geplant wurden. Die Tage in diesen Räumen taugen zu keinem schnellen Sinn, weil sie eben zu dieser Ansammlung von nicht effektivierbarem Wissen gehören. Wir müssen uns aber fragen, was passiert, wenn sich die Treffen wiederholen, wenn sich viele von uns immer wieder treffen, berichten, reden. Welcher Raum entsteht da und wie vermeidet man es, sich aneinander abzunutzen? Ein Freund von uns meinte, dass es eine politische Aufgabe sei, die Themen lebendig zu halten. Wir glauben, dass das nur geht, wenn man sie in ihrem aktuellen antagonistischen Verhältnis denkt. [1] ExArgentina ist ein Projekt des Goethe Instituts Buenos Aires, gefördert von der Bundeskulturstiftung Deutschland, über die ökonomische Krise in Argentinien als ein perfektes Beispiel der Konsequenzen der internationalen Finanz- und Wirtschaftspolitik und ihrer neoliberalen Ideologie. Wir arbeiteten und diskutierten mit politischen Gruppen und KünstlerInnen. Ein Resultat unserer Reise wird im März 2004 eine Ausstellung im Museum Ludwig in Köln sein. Das Projekt möchte künstlerisches und politisches Engagement unterstützen, das sich gegen die aktuellen globalen Machstrukturen stellt, und dabei auch Verbindungen zu europäischen Initiativen zeigen. http://www.exargentina.org/ |
Alice CreischerAndreas SiekmannlanguagesDeutsch English Françaistransversalreal public spaces |