Im November des letzten Jahres sind wir nach Buenos Aires gekommen, um ein Projekt mit dem Arbeitstitel ExArgentina[1] zu beginnen. Das Projekt verstand sich zunächst als eine Form von ökonomiekritischer Untersuchung zur Wirtschaftskrise in Argentinien und zu den internationalen Lobbys, die davon profitieren. Unsere Investigation stützt sich als künstlerische Praxis auf den Begriff der Genealogie, wie er von Foucault entwickelt wurde – eine partikulare und lokale Kritik, die wie ein Bremsklotz auf globale und zentrale theoretische Produktionen wirken würde. Wenn Foucault von einem Aufstand des unterdrückten Wissens mit den Methoden einer nicht effektivierbaren Wissenschaft spricht, dann geht es in erster Linie um die Sichtbarkeit dieses Wissens. Diese Nichteffizienz der Methoden, die sichtbar machen, scheint übertragbar zu sein auf das Reservoir von künstlerischen Kategorien, die ihre optischen Instrumente in ihrer Anmaßung von Autonomie sehr fein geschliffen haben. Die Methoden der Sichtbarmachung dieses Wissens sind nicht austauschbar, sondern sie sind wie die Inhalte Ausdruck einer Involviertheit. Es geht also um keine letztgültige Analyse, eher geht es um die Suche nach einer Darstellungsweise, wie man das Wahrgenommene und die Schlussfolgerungen, die Empörung und die Solidarität so erinnerlich halten kann wie ein Gedicht oder ein Bild, das erst in dieser Form zur "aktuellen Taktik" werden kann.
Bewegung sichtbar machen
Wir blieben sieben Monate in Buenos Aires, reisten auch nach Posadas, Tucuman, Cordoba und Bahia Blanca. Nach dieser Zeit war es klar, dass es nicht nur um eine Form der Untersuchung geht, sondern darum, wie eine soziale Bewegung geschildert werden kann, die hier so eindringlich präsent ist und in die viele der bisherigen TeilnehmerInnen des Projektes involviert sind. Wir stehen also vor dem Problem, wie wir diese Bewegung schildern können, und zwar in einem hegemonialen Bereich, der so sehr und so häufig die Bilder ausbeutet, ihre Mitteilungen domestiziert und sie einer Universalität unterwirft, die jede Aussage unsichtbar macht. Wir stehen auch vor der Herausforderung, uns an eine integre künstlerische Praxis zu erinnern, die beweist, dass es möglich ist, solche Bewegungen in Würde sichtbar zu machen.
In Argentinien begannen wir, Reisebriefe zu schreiben – wie dieses altmodische Literaturgenre aus dem 18. Jahrhundert, als die Briefe eine Art Spiegelfunktion für die eigene Gesellschaft hatten. Das ist genau das, was die aktuelle Beschreibung der Zustände in Argentinien dem europäischen Blick antut. Ein Teil des letzten Briefe scheint uns ein präzise Beschreibung von dem zu sein, was "real public space" sein könnte, wenn öffentlicher Raum nicht mehr existiert, weil er komplett besetzt ist von privaten ökonomischen Interessen oder der Exekutive. Für uns ist "real public space" kein Ort, sondern eine Situation. Im Brief beschreiben wir die Besetzung des öffentlichen Raums durch die Wahlkampagnen und – am Ende – eine dieser seltenen Situationen von "real public space". Wir schrieben den letzten Brief, als wir schon wieder in Deutschland waren. So…
"… beginnen wir die Erzählung der Eindrücke vom Ende her und von dieser neuartigen Erfahrung von Entfernung, die so ist, als ob ein optisches Gerät nun nicht mehr taugt und neu eingestellt werden müsste. Aber man kommt mit dem Einstellen nicht nach, weil man sich selbst währenddessen immer weiter entfernt. Oder es ist so, wie von dem Hintersitz eines Autos aus durch die Heckscheibe nach hinten zu starren – in diese rasende Verkleinerung der Dinge, Personen und Ereignisse bis zu ihrem bloßen Punktsein.
Kampagnen als totale Besetzung des öffentlichen Raums
An 
                          diesem Ende ist Kirchner mit 22 Prozent der Stimmen 
                          Präsident von Argentinien. Trotz 2 Prozentpunkten mehr 
                          an Stimmen hat Menem auf eine Kandidatur zum zweiten 
                          Wahlgang verzichtet. Auf unserem Bildschirm in Berlin 
                          bleiben die Gesichter vom Sieger und vom Verlierer so 
                          undeutlich wie in Live-Bildern von Personen in einer 
                          Raumkapsel. Sie werden von nervösen Linien attackiert, 
                          und sie erinnern uns sofort an die Porträts von Menem, 
                          die erst ganz kurz vor der Wahl von den Kampagnenmachern 
                          zugelassen wurden, um eine Beschmierung zu verhindern. 
                          Es war ein abgewandtes Gesicht im Profil, von eben diesen 
                          horizontalen Linien durchzogen, so als ob die Kamera 
                          nur mit äußerster technischer Anstrengung diese Gestalt 
                          einfangen konnte. So vielbeschäftigt ist diese Person, 
                          die gerade aus einem Wagen in ein Gebäude eilt. Diese 
                          Anstrengung tragen nun beide Gesichter. Aber vor dem 
                          Bildschirm in Berlin ist dies zugleich nur ein Phänomen 
                          von Entfernung und Gleichgültigkeit – irgendwelche Präsidentschaftswahlen 
                          in irgendeinem unruhigen, bankrotten Land.
                          Hier wird die Wahl mit der Floskel: 
                          ein Stocken im dringend notwendigen Reformprozess abgehandelt. 
                          Schlimmstenfalls kommt Lopez Murphy als Alternative 
                          vor – ein Law-and-Order-Despot, dessen Gesetzesvorschläge 
                          darauf aus sind, Aufträge wie für sein eigenes Security-Unternehmen 
                          zu schaffen. Er hat in Buenos Aires gewonnen, er hat 
                          den größten Anteil der Stimmen erhalten, ebenso wie 
                          im ersten Wahlgang Menem. 80 Prozent aller ArgentinierInnen 
                          haben sich der Wahlpflicht gebeugt. Diesmal haben sie 
                          die Wahlzettel nicht bemalt – kein Clement ohne Arme 
                          –, sie haben keine Flüche darauf gekritzelt, noch Parolen 
                          darauf geklebt – all das, was in der vorherigen Wahl 
                          passierte und was eine deutliche Absage an diese Ja/Nein-Gehorsamkeit 
                          war, ‚Freiheit‘ aufzuführen.
                          Wir schreiben dies so ausdrücklich 
                          hin, weil wir zunächst nicht begreifen können. In den 
                          80er Jahren wurde in der Provinz Tucuman eine Person 
                          namens Bussi wieder gewählt. Er ließ alle Obdachlosen 
                          aus der Stadt San Miguel de Tucuman ins Umland aussetzen, 
                          wo viele von ihnen verhungerten. In der Stadt war keine 
                          Armut mehr sichtbar. Bussi war während der Juntazeit 
                          bereits Gouverneur gewesen.  
                          Was für eine Unterstellung 
                          ist diese Geschichte? Wer wird damit als dumm verurteilt, 
                          und wer als grausam? Die Unterstellung geht davon aus, 
                          dass es eine Verbindung gibt – oder zumindest eine Projektion 
                          von Verbindung – zwischen dem Wählen, den eigenen Absichten 
                          und der eigenen alltäglichen politischen Situation. 
                          Sie berücksichtigt nicht die Fiktionalität repräsentativer 
                          Politik und die Gewalt, mit der diese Fiktionen sich 
                          in die Wirklichkeit umsetzen.
Wir erinnern uns nun an einzelne Wahlplakate mit ihrer Komik. Rodriguez Saa stand vor Raffinerien mit der Überschrift ‚100 Prozent Argentina‘, obwohl der Verkauf der Raffinerien an internationale Konzerne die erste Welle von Massenarbeitslosigkeit verursachte. Kirchner versprach ‚en serio‘ (im Ernst) ein Land mit nationaler Industrie und einem funktionierenden Gesundheitssystem. Menem, derjenige also, der eine Symbolfigur für ‚die Krise‘ ist und der wegen Waffenschieberei und Korruption voriges Jahr unter Arrest stand, bewarb sich als Una Marca Registrada (eine eingetragene Marke). In Uruguay gibt es einen Badeort, der Punta del Este heißt und der zum größten Teil aus Apartmenthäusern besteht, in denen reiche ArgentinierInnen wohnen. Dort sahen wir einen Pavillon, der ganz zugeklebt war mit Menem-Plakaten, ein Zirkuszelt mit einer geklebten blauweißen Papierhaut und gekrönt von der Neonschrift ‚Menem‘ 2003. Es kam uns so vor, als ob diese Plakate mit den Filmplakaten von Familien- oder Anwaltsfilmen vor den großen Multiplexkinos in den Einkaufscentern austauschbar geworden wären, d.h. mit dem kollektiven Unterbewusstsein von Doris Day, von Milchflaschen auf dem Rasen vor dem Bungalow, von lichtdurchfluteten Versicherungsgebäuden, Schulen, Hospitälern und Fabriken, von einem nationalen Wohlfahrtsstaat, der die Bevölkerung pflegt und braucht. Diese Versorgung hat ihre notwendige Ergänzung in der Bedrohung des Wohlstandes von außen, im Ernstfall für Feinde von innen und in einer Technik des Krieges, an dessen Produktion die Familie beteiligt ist.
So weit zu dem Traum 
                          der Wahlplakate in ihrer Nachbarschaft zum Kino. Wenn 
                          dieser Traum die Wahrheit sein soll, dann nicht wegen 
                          einer Nähe zur Realität, sondern wegen der Macht, die 
                          seine öffentliche Präsenz durchsetzt. Die Wahrheit ist 
                          unumstößlich, solange die Kampagne Wahlen ‚rollt‘ (wie 
                          es in einem altmodischen Marketingdeutsch heißt). Dies 
                          – diese unfehlbare Harmonie der Kampagne – wird finanziert 
                          von IWF und Weltbank, weil ihr Ablauf sich selbst beweist. 
                          Der IWF hat den Wahlboykott von vorigem Jahr als Mangel 
                          an Bildung interpretiert. Das Geld für die Parteiapparate 
                          ist also als eine Bildungsmaßnahme gedacht.
                          Es gab Kandidaten, die Reden 
                          hielten, claquiert von einem ‚Volk‘, das aus den Provinzen 
                          gecastet wurde und bezahlt mit Empanadas oder T-Shirts. 
                          Man sagte, dass die Hochrechnungen in den Zeitungen 
                          sich nach der Bezahlung der jeweiligen Parteien richteten, 
                          ebenso wie manche Wetten anstellten, mit welchem Geldaufwand 
                          wer wie viele Stimmen kauft. Es gab riesige Graffitis 
                          auf Autobahnbrücken oder Unterführungen mit der Aufschrift 
                          ‚Menem / Romero‘ oder ‚Kirchner / Scioli‘. Gegen Ende 
                          des Wahlkampfes wurden – im Auftrag derselben Peronistischen 
                          Partei, aber des gegnerischen Lagers – Menem-Plakate 
                          überklebt mit dem Slogan ‚Menem al Gobierno / Bush al 
                          Poder‘ (‚Menem an die Regierung / Bush an die Macht‘). 
                          Diese Polemik hat Raffinesse, weil sie einen gleich 
                          lautenden Slogan kopiert, mit dem der Kandidat Hector 
                          Campora sich 1973 nur an die Regierung wählen ließ, 
                          damit der alte Peron an die Macht zurückkehren konnte. 
                          So lautet der patriotische Mythos, der nun ‚beschmutzt‘ 
                          ist durch den Ersatz von Peron durch den verhassten 
                          Bush. Dieselben Techniken also, die wir in Europa Kommunikationsguerilla 
                          nennen mögen, sind in der Macht von Parteien, weil sie 
                          bis in die Zeit zurückreichen, in der diese Parteien 
                          verboten waren und Verbindungspersonen in den einzelnen 
                          Barrios ihre Slogans an die Wand malten – nur dass sich 
                          in den Jahren der Macht diese Subversivität in ein Instrument 
                          von Kontrolle gewandelt hat.
Es ist sicher, dass niemand an die Versprechungen der Plakate glaubte. Vielleicht war die Entscheidung, zu wählen und die Wahlscheine nicht in Unordnung zu bringen, nicht einer Logik der Verheißung, sondern einer Logik jener Angst zu verdanken, die die Kampagnen erregten wegen ihrer Allgegenwärtigkeit und wegen der Drohungen, mit denen sie eskortiert wurden. In der Fernsehwerbung wurden oft Armenviertel wie eine Ermahnung gezeigt, es nicht dahin kommen zu lassen und die eigene Haut noch einmal mit der eigenen Stimme vor einem Sein in dieser Armut zu retten. Uns kam es so vor, als ob diese Warnung von den reichen Funktionären an eine Schicht von kleinen Leuten gerichtet wurde, die ihre frische Dezimierung noch spürten und deren ehemalige Nachbarn die letzte Welle von Obdachlosen bildeten. Sie halten wie eine schmerzhafte Erinnerung den Raum in der Stadt besetzt.
Kampagnen der Vertreibung
Also 
                          nun zur Stadt selbst, zu diesem physischen, von Armut 
                          besetzten Raum. In der Stadt begann gleichzeitig mit 
                          der Macht, Fiktionen präsent zu machen, eine Kampagne 
                          der Vertreibung, eine Kampagne der Auslöschung von allen 
                          Formen der Selbstorganisation, die als Symptom der Krise 
                          betrachtet wurden. Zuerst wurden die besetzten Häuser 
                          in Buenos Aires geräumt, die als Orte für Stadtteilversammlungen, 
                          Volksküchen, kulturelle und politische Initiativen dienten. 
                          Indymedia, die Chronistin dieser Vertreibungen und selbst 
                          vertrieben bei der Räumung einer ehemaligen Bankfiliale, 
                          zitiert Menems Versprechen: ‚die Straßen von Kommunisten 
                          und anderen Delinquenten zu säubern, um das soziale 
                          Chaos zu stoppen‘, die mit ähnlichen Äußerungen der 
                          Konkurrenten austauschbar sind.
                          Einige Wochen vorher begann eine 
                          Debatte in den Medien der etablierten Intelligenz über 
                          die neuen sozialen Bewegungen und die westliche Rezeption, 
                          die man unter dem Stichwort Turismo Piquetero zusammenfassen 
                          kann. In dieser Diskussion gelang eine endgültige Verschiebung 
                          der bisherigen Ursache der ‚Krise‘ – von der Korruption 
                          einer Politikerkaste, die sich zusammen mit den internationalen 
                          Finanzkonzernen bereicherte, hin zu den ‚Symptomen‘: 
                          der Armut, dem Protest, der Selbstorganisation von Armen, 
                          um weiterzuleben, den Forderungen nach Ermöglichung 
                          des Überlebens, die sich eben nicht ausschließlich 
                          an einen Staat richten, sondern an das Eigentumsparadigma 
                          einer gesamten Klasse, der Impertinenz dieser Symptome, 
                          nicht zu verschwinden. Dies alles wird zum Objekt des 
                          Voyeurismus von Fremden. Aber welche Lust des Betrachtens 
                          verbindet die Fremden mit den Personen, die sich organisieren? 
                          Welche Majestätsbeleidigung ist es, nicht die Macht, 
                          sondern ihr Abjekt zu studieren? Wir stellen diese Fragen 
                          mit dem Nachdruck der Voyeure.
                          Als erstes wird ‚el Padelai‘ 
                          geräumt, ein seit 20 Jahren besetztes Haus, in dem zur 
                          Zeit der Räumung über 500 Personen lebten. Die meisten 
                          davon waren jünger als 18 Jahre. 300 Polizisten räumen 
                          das Gebäude mit Tränengas und Gummigeschossen. Sie nehmen 
                          86 Personen fest und verletzen mehr als 40. Es folgen 
                          die Treffpunkte der Arbeitslosenorganisation San Telmo 
                          und Florencia Varela, die Gemeinschaftsküche in Almirante 
                          Brown, der Treffpunkt der H.I.J.O.S., das Haus der Asamblea 
                          Paternal, das soziale Zentrum ‚Azucena Villaflor‘, um 
                          nur einige der ersten zu nennen.
                          Indymedia schreibt: ‚Der Repressionsapparat ist überall 
                          und ständig präsent. Vor jedem Supermarkt und jeder 
                          Bank stehen Polizeitruppen mit ihren schusssicheren 
                          Westen. Straßensperren gehören genauso zum Alltagsbild, 
                          wie oftmals mit Maschinenpistolen ausgerüstete Robocops 
                          auf politischen Protesten.‘ Wir haben diese Bilder 
                          auch gesehen, aber sie haben uns zuerst nicht erschreckt 
                          – so alltäglich war ihre Präsenz, und so unbedroht 
                          lebten wir selbst hinter unserem Guckloch. Alle Maßnahmen 
                          werden durch eine neue ‚Antiterror‘-Gesetzgebung legitimiert, 
                          die genau ein Jahr nach dem 11. September durch 
                          die US-Botschaft und die dazu autorisierten Beamten 
                          der Legislative abgeschlossen wurde. Das Gesetz soll 
                          eine Zusammenarbeit von Sicherheits- und Armeekräften 
                          und den Geheimdiensten ermöglichen. Es ermächtigt diese 
                          Organisationen, gegen ‚terroristische Kriminalität‘ 
                          auf bloßen Verdacht hin vorzugehen. Terroristische 
                          Kriminalität kann alles bedeuten. Es ist dieselbe Willkür 
                          und Entrechtung, die seit dem 11. September in beinahe 
                          allen ‚Demokratien‘ passiert und einen neuen Standard 
                          von Staatsgewalt setzt.
Ein Sänger als Souverän seiner Präsenz
Die 
                          Räumung der Anzugfabrik Brukman ist das zentrale Ereignis 
                          im Wahlkampf von Buenos Aires. Brukman gehört zu den 
                          ungefähr 180 selbstverwalteten Betrieben des Landes, 
                          die täglich die Möglichkeit einer Produktion ohne Chef 
                          und ohne Eigentümer beweisen. Am Karfreitag drangen 
                          um 2 Uhr nachts circa 150 schwer bewaffnete Polizisten 
                          in die Fabrik ein, auf Befehl des neuen Richters Grimoldi, 
                          der ein Mitglied der Junta war. Die Clique des Präsidenten 
                          Duhalde hatte diesen Richter in den Tagen zuvor in das 
                          Amt eingesetzt und die Akten von Brukmann für geheim 
                          erklärt. Sie bewies wieder einmal ihre schnelle Bereitschaft, 
                          Politik zu militarisieren. Die Arbeiterinnen konnten 
                          in kurzer Zeit eine große Menge von Personen mobilisieren, 
                          die gegen diese Räumung vier Tage lang protestierten, 
                          bis die Polizei die 7000 Menschen vor der Fabrik vertrieb, 
                          verfolgte und viele gefangen nahm.
                          Die Tage zwischen der Räumung, 
                          dem Protest und der Vertreibung machten deutlich, dass 
                          es nicht so ist, als ob es zwei getrennte Parteien von 
                          Macht und Empörung gibt, sondern dass sie verbunden 
                          sind durch ein Gewebe von Vermittlungs- und Rechtsprechungsapparaten, 
                          die von der einen Seite angerufen und von der anderen 
                          Seite benutzt werden. In dem Bereich der Fiktionalität 
                          des Wahlkampfes war die Räumung von Brukman ein Schauprozess, 
                          der im Auf- und Abtreten der Instanzen und Einsprüche 
                          die Unantastbarkeit des Privateigentums und den damit 
                          einhergehenden Sinn von Staatsgewalt als dessen Schutz 
                          beweist. Die Erklärung der beiden Richter, die die Räumung 
                          anordneten, war, dass ‚in Hinblick auf ökonomische Interessen 
                          keine Souveränität des Lebens und körperliche Unversehrtheit 
                          gegeben ist‘. Sie ruft große Empörung hervor und wird 
                          danach zurückgenommen, aber sie steht wie eine neue 
                          Säule im Raum, wie eine Präambel zu einer neuen Verfassung.
Es ist aber nicht richtig, zu sagen, dass ein Schauspiel aufgeführt wurde, in dem nach und nach all diese Instanzen die Bühne betreten, argumentieren und ihre Verbeugung machen. Man würde dann alle gleichsetzen: das Arbeitsministerium, verschiedene Polizeichefs, Richter, Staatsanwälte, Abgeordnete, Anwälte, Journalisten, Arbeiterinnen, Männer, Frauen und Kinder. Man würde alle als bloße Spieler vor der Kulisse von Macht abtun, die schon am ersten Tag ihre Polizeitruppen aufgestellt hat. Bevor man von Aufführung, Zweck und Ausgang spricht, muss man sich erinnern an einzelne Tage oder Stunden, an ihre Empörung und Schönheit. Wir erinnern uns zum Beispiel an eine Nacht, in der ein großes Tango-Orchester vor den Absperrungen spielte, mit denen die Polizisten die Fabrik blockierten. Es war anscheinend direkt vom Konzertsaal dorthin gekommen. Der Sänger benutzte nur dann ein Megaphon, wenn bestimmte Stellen des Liedes an die Polizisten gingen. Er sang dann eigenartig leise und gespreizt. Es war klar, dass der Sänger ein Souverän seiner Präsenz war, dass er seine Präsenz nur zum Teil der Beschimpfung in das Verhältnis zur Staffage von Macht stellte. Den großen Rest behielt er denen vor, die auf den Bordsteinkanten der Straße saßen oder auf dem Rasen im nah gelegenen Park."
Resümee
Wie viele andere sind wir damit beschäftigt, Kohärenzen herzustellen zwischen politischem Aktivismus, politischer Theorie und politischer Kunst. Aber oft kommt uns das vor wie ein Raum, der nur in unserem eigenen Kopf existiert, oder so als ob es eine Einbahnstraße von politischen Informationen und Debatten gibt, die wir im Bereich der Kunst aufnehmen und zeigen können.
Vielleicht ist diese Vermutung auch in sich falsch, weil sie von einem Austausch ausgeht, der von Identität zu Identität geschmiedet wird. So als ob wir als "Künstler" von "Argentinien" berichteten vor "Hausbesetzern", "Medienaktivisten" und "Philosophen". Nehmen wir diese Identitäten als gegeben an, so ordnen sie sich automatisch zu einer Pyramide, die auf dem Kopf steht. Die Aktivisten würden die untere Spitze bilden – sozusagen "das Reale", von der eine Linie zur Theorie abzweigt – eine normative Beziehung, in der die Theorie die politische Aktion beurteilt. Die andere würde zur Kunst abzweigen – eine Beziehung der Verwertung, in der die künstlerische Arbeit sich mit dem gesellschaftlichen Sinn der politischen Aktivität auflädt. Sie wären zu vergleichen in ihrem Aufbau mit den Gemälden in dem Raum des Istituto per gli Studi Filosofici, in dem wir beim Workshop in Napoli saßen, die von den banalen Wolkenrändern immer mehr in die Höhe der Geisteswelt verwiesen.
Diese Schematisierung wird schon von den verschiedenen Tätigkeiten und Engagements der einzelnen Personen, die berichten, erschüttert. So sind wir hier nicht als "Künstler" aufgetreten, sondern eher als Reisende, die einen Bericht zur Zurichtung und Freisetzung von öffentlichem Raum in Argentinien vortragen. Und es wäre utilitaristisch, nun zu fragen, wer etwas davon gebrauchen konnte, ob Adressen ausgetauscht oder Kooperationen geplant wurden. Die Tage in diesen Räumen taugen zu keinem schnellen Sinn, weil sie eben zu dieser Ansammlung von nicht effektivierbarem Wissen gehören.
Wir müssen uns aber fragen, was passiert, wenn sich die Treffen wiederholen, wenn sich viele von uns immer wieder treffen, berichten, reden. Welcher Raum entsteht da und wie vermeidet man es, sich aneinander abzunutzen? Ein Freund von uns meinte, dass es eine politische Aufgabe sei, die Themen lebendig zu halten. Wir glauben, dass das nur geht, wenn man sie in ihrem aktuellen antagonistischen Verhältnis denkt.
[1] ExArgentina ist ein Projekt des Goethe Instituts Buenos Aires, gefördert von der Bundeskulturstiftung Deutschland, über die ökonomische Krise in Argentinien als ein perfektes Beispiel der Konsequenzen der internationalen Finanz- und Wirtschaftspolitik und ihrer neoliberalen Ideologie. Wir arbeiteten und diskutierten mit politischen Gruppen und KünstlerInnen. Ein Resultat unserer Reise wird im März 2004 eine Ausstellung im Museum Ludwig in Köln sein. Das Projekt möchte künstlerisches und politisches Engagement unterstützen, das sich gegen die aktuellen globalen Machstrukturen stellt, und dabei auch Verbindungen zu europäischen Initiativen zeigen. http://www.exargentina.org/