
|   09 2003 Centro Sociale Leoncavallo. Soziale Konstruktion eines öffentlichen Raums der NäheÜbersetzt von Klaus Neundlinger Das Centro Sociale Leoncavallo entsteht 1975 in Mailand, im Gefolge der illegalen Besetzung einer Jahre zuvor stillgelegten und verlassenen Fabrik, die sich inmitten eines Viertels mit sozialen Wohnbauten befand. Die ersten BesetzerInnen, die eine informelle und nicht organisierte Gruppe bilden, gehören den Bewegungen der radikalen Linken Mailands an, die nach 1968 entstanden sind. Die Gruppe folgt dem Prinzip der Selbstorganisation/Selbstverwaltung, das auf der Entscheidungsmacht der Versammlung aller Mitglieder und auf der Abwesenheit interner Hierarchien beruht, aber auch auf der Aufwertung der individuellen Autonomie und der Freiheit der Einzelnen. Das Zentrum wird als eine Antwort "von unten" auf das ausgeprägte Bedürfnis nach autonomen Räumen für gemeinschaftliches Handeln, Kultur und die Organisation sozialer Dienstleistungen im Umfeld ins Leben gerufen. Von Anfang an finden deshalb – neben verschiedensten Räumen zur gemeinschaftlichen Nutzung und zur formlosen Begegnung – eine Frauenberatungsstelle, ein Kindergarten, ein Raum für Konzerte und Ausstellungen in dem Gebäude Platz. Das erklärte Ziel ist es, einen öffentlichen Raum für das Viertel und die Stadt zu schaffen, der sich außerhalb der Kontrolle des Staates und der kapitalistischen Logik des Marktes ansiedeln soll. In dieser Hinsicht nehmen die im Zentrum angebotenen Dienstleistungen und die dort durchgeführten kulturellen Aktivitäten einen klar politischen Wert an: Sie sind der Ausdruck eines universalistischen Engagements, das darauf abzielt, die sozialen Rechte konkret auszuweiten, vor allem aber das Recht auf Selbstbestimmung der Individuen in Bezug auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Dennoch gerät das 
                          Zentrum während der 80er Jahre in eine Krise, was eine 
                          Konsequenz des bunten Mit- und Durcheinanders an Prozessen 
                          darstellt, die die Erfahrung der Bewegungen der 70er 
                          Jahre beenden. Eine fortschreitende Selbstbezogenheit 
                          jener kollektiven Subjekte, das Aufkommen des bewaffneten 
                          Kampfes, die Ausbreitung von Drogen wie Heroin, das 
                          Zunehmen von Phänomenen der Deindustrialisierung, die 
                          mit Auflösungsprozessen innerhalb der ArbeiterInnenklasse 
                          einhergehen, sind nur einige der Elemente, die das Centro 
                          Leoncavallo zunehmend in eine Position der sozialen 
                          Marginalität drängen. Während die soziale Zusammensetzung 
                          der Gesellschaft rapiden Veränderungen unterworfen ist, 
                          findet sich das Centro sociale teilweise isoliert in 
                          einem Territorium wieder, das ihm immer feindlicher 
                          gesinnt ist. Die Privatisierung des öffentlichen Raumes 
                          geht Hand in Hand mit der polizeilichen Repression gegenüber 
                          illegalen Besetzungen, und allgemeiner gegenüber sozialen 
                          Bewegungen. Die in Teilen der öffentlichen Meinung, 
                          vor allem aber bei lokalen PolitikerInnen verbreitete 
                          Meinung, die selbstverwalteten sozialen Zentren seien 
                          eine nunmehr abgeschlossene Entwicklung und somit Überbleibsel 
                          der Vergangenheit, beginnt sich durchzusetzen. Die AktivistInnen 
                          tendieren dazu, sich in einen von der Gesellschaft getrennten 
                          Raum zurückzuziehen: Einerseits erzeugt dieses Phänomen 
                          neue innere "Schübe" in Richtung von Innovationen 
                          im Bereich der Gegenkultur und der Kunst (zum Beispiel 
                          über die Begegnung mit der Punkbewegung), andererseits 
                          jedoch verstärkt sich jene Marginalität und der Mangel 
                          an Wirksamkeit in Bezug auf das Soziale, die früher 
                          oder später wahrscheinlich die Aufgabe des Zentrums 
                          zur Folge gehabt hätten. Der tendenziell geschlossene 
                          gemeinschaftliche Raum der 80er wird auf eine viel breitere 
                          Weise wieder zum offenen und öffentlichen Raum der 70er 
                          Jahre. Die Trennwände werden abgetragen, die organisatorische 
                          Dezentralisierung schreitet voran, und all das wird 
                          an der Strukturierung des Gebäudes ersichtlich. Tatsächlich 
                          wird der breite straßenseitige Eingang, der direkt in 
                          den Hof führt, tagsüber offen gelassen, um allen freien 
                          Zugang zu ermöglichen, vor allem den Obdachlosen und 
                          MigrantInnen. Der Innenhof versteht sich gleichzeitig 
                          als Treffpunkt für das Stadtviertel. Einerseits stellt 
                          er einen geschützten Raum dar, wo die vom rechtlichen 
                          Standpunkt aus gefährdeteren Gruppen (vor allem MigrantInnen) 
                          sich ohne Angst vor der Polizei treffen können, während 
                          er sich andererseits als nach außen gerichteter öffentlicher 
                          Raum gestaltet, in dem Bars anzutreffen sind und Freiluftveranstaltungen 
                          für das Viertel und die Stadt über die Bühne gehen. 
                          Die gemeinsamen Räume im Freien unterliegen keiner formalen 
                          Kontrolle, sie sind frei zugänglich und sollen der freien 
                          Entwicklung der sozialen Beziehungen dienen sowie der 
                          direkten Interaktion der Personen, sowohl der BesetzerInnen 
                          als auch der BesucherInnen und NutzerInnen. Alle Räume 
                          werden von verschiedensten Gruppen, die in diesen kulturelle 
                          oder soziale Aktivitäten organisieren, selbst verwaltet. -          
                          die zwei Bars, wo künstlerische 
                          und kulturelle Veranstaltungen stattfinden (Ausstellungen, 
                          Diskussionen etc.) und wo auch 
                          -          
                          die Selbstbedienungsküche, 
                          die dem Publikum zu niedrigen Preisen zur Verfügung 
                          steht, wo aber auch Gratis-Essen an 
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                          die Sitze der vier NGOs, 
                          die dem Zentrum angehören (diese sind im soziokulturellen 
                          Sektor und in der - der Saal für Konzerte und Theaterproduktionen, wo gut besuchte Events zu niedrigen Preisen stattfinden. 
                          -          
                          die Buchhandlung, die 
                          auch als Dokumentationszentrum und Archiv- und Konsultationsstelle 
                          für selbst produziertes Material 
                          -          
                          der "Kommunikationsbereich", 
                          wo sich die Verwaltung und die Informations- und Kommunikationsdienste 
                          des Zentrums In diesen Räumen 
                          werden im eigentlichen Sinn öffentliche Dienstleistungen 
                          ausgerichtet, mit einem klar universalistischen Ansatz: 
                          Gleichzeitig bringen es die besondere Aufmerksamkeit 
                          gegenüber den sozialen Beziehungen und das Bedachtsein 
                          auf einen direkten Kontakt mit den NutzerInnen mit sich, 
                          dass diese Dienstleistungen sich im Spannungsfeld zwischen 
                          Dynamiken sozietärer Natur (die mit den universellen 
                          Grundrechten zusammenhängen) und kommunitärem Wesen 
                          (die auf der Wechselseitigkeit und den Face-to-face-Beziehungen 
                          basieren) abspielen. Die Bereitstellung 
                          dieser Dienstleistungen universellen Charakters mit 
                          konkreten, lokalen Auswirkungen aktiviert darüber hinaus 
                          die wirtschaftliche und die Beschäftigungsdynamik, die 
                          das Leoncavallo zu einer Art Non-Profit-Unternehmen 
                          machen. Tatsächlich ermöglichen es die Aktivitäten des 
                          Zentrums, ca. 40 AktivistInnen zu entlohnen (von denen 
                          viele MigrantInnen sind), und zwar dank der Einnahmen, 
                          die sich aus einer jährlichen BesucherInnenzahl von 
                          etwa 100.000 Menschen ergeben. Ausgehend von der Geschichte und der Entwicklung einer konkreten Realität können wir behaupten, dass der bislang vorgestellte Weg des Leoncavallo einige Schlüsselelemente des Diskurses über öffentliche Räume erhellt. Kurz zusammengefasst, handelt es sich dabei um folgende Punkte: -          
                          der 
                          physische Raum, der eine 
                          äußerst wichtige Bedingung für die Entwicklung kollektiver 
                          Identitäten und sozialen Handelns 
                          -          
                          die 
                          Nähe, also die physische 
                          Nachbarschaft, die die Entwicklung der Gemeinschaften, 
                          der Face-to-face-Beziehungen und des 
                          -          
                          die 
                          Teilhabe über die Selbstorganisation, 
                          das heißt, die Öffnung der Organisation und des Raumes 
                          für individuelle und kollektive 
                          -          
                          der 
                          Universalismus, das heißt, 
                          die Nutzung des Raumes und der darin angebotenen Dienstleistungen, 
                          die sich an die ganze 
                          -          
                          die 
                          Autonomie, das heißt, die 
                          Unabhängigkeit des Raums und der Organisation von anderen 
                          politischen und ökonomischen Wie immer der Prozess der teilweisen Institutionalisierung des Leoncavallo ausgehen wird, seine Entwicklung zeigt, dass die Behauptung und Verteidigung der öffentlichen Räume in einer Metropole den Rückgriff auf Momente der Auseinandersetzung erfordert, über die eine breitere gesellschaftliche Zustimmung zu erreichen ist. Der reale öffentliche Raum scheint sich also dadurch auszuzeichnen, dass er ein umkämpftes Territorium ist, das immer Gefahr läuft, privatisiert oder der bürokratischen Kontrolle unterworfen zu werden. Ein symbolisches, identitäres und vielschichtiges Territorium, auf dem sich die soziale Sphäre mit der politischen, kulturellen und auch der ökonomischen überschneidet. Ein Raum, in dem sich diese Elemente immer wieder neu zusammensetzen, innerhalb vielfältiger und zerbrechlicher Gemeinschaften, in ständiger Dialektik mit einer immer globaleren Gesellschaft. Ein öffentlicher Raum der Nähe also, wo der Diskurs über das kollektive Gut in den alltäglichen sozialen Praktiken verwurzelt ist, in einem gemeinsamen materialen Raum mit dessen vielfältigen Bedeutungen. | Andrea MembrettiKlaus Neundlinger (translation)languagesItaliano Deutsch English Françaistransversalreal public spaces |