05 2007 Vom Wissen der Selbstverwaltung zur Selbstverwaltung des WissensÜbersetzt von Birgit Mennel Was und warum? Der experimentelle Lehrstuhl für Subjektivitätsproduktion (cátedra experimental sobre producción de subjetividad) ist ein Projekt, in dem wir als Team von Studierenden, militanten Forschenden und Lehrenden in Rosario, Argentinien zusammenarbeiten. Der Lehrstuhl stellt einen Versuch dar, eine konstituierende Form universitärer Militanz zu erzeugen. Wir haben uns vorgenommen, über eine Kritik an der in Auflösung begriffenen staatlichen Universität sowie der im Entstehen begriffenen marktwirtschaftlich orientierten Universität hinauszugehen. In diesem Sinn ist der experimentelle Lehrstuhl eine erste Vorstellung einer nicht-staatlichen öffentlichen Universität und zugleich eine Alternative zur marktwirtschaftlich orientierten Universität. Für das Jahr 2006 haben wir eine Prozedur entworfen, die bei verschiedenen gegenwärtigen Dispositiven der Subjektivitätsproduktion innehält: Arbeit, Staat, Markt, Kommunikation, Universität; durch diese Dispositive, in ihnen, gegen sie und abseits von ihnen – die Prozesse der Selbstorganisation als Dispositive einer Selbstveränderung des Lebens und der Hervorbringung autonomer Zeiten und Räume, in denen wir selbst entscheiden, wie wir leben wollen. Ausgehend von diesem konstruktiven Prozess einer selbstorganisierten Gestaltung universitären Wissens kommen wir auch in der Ausgestaltung eines Horizonts der Zusammensetzung mit anderen Selbstorganisationsprozessen voran – angestoßen von den sozialen Bewegungen, die neue Weisen subjektiver Existenz und Prozesse kollektiver Produktion erfinden. Die generellen Entscheidungen des Lehrstuhls werden in einer Versammlung der Problematisierung, Ausarbeitung, Organisation und Gestaltung getroffen. Diese Versammlung übernimmt die gesamte Projektkoordination, die allgemeinen politischen und institutionellen Beziehungen ebenso wie die Finanzierung und Bewerbung des Raumes. Sie arbeitet in wöchentlichen Treffen, die darauf ausgerichtet sind, sich über die kommenden Veranstaltungen auszutauschen, sie zu beobachten und zu diskutieren, aber auch (selbst) zu kritisieren. Der Prozess der Selbstbildung ist um fünf Arbeitsmodule herum organisiert, die im Laufe eines Monats aufeinander folgen: Arbeit und Subjektivitätsproduktion, Staat und Subjektivitätsproduktion, Markt und Subjektivitätsproduktion, Kommunikation und Subjektivitätsproduktion, Universität und Subjektivitätsproduktion. Autonome Arbeitsgruppen übernehmen je ein Modul und definieren Inhalte, Bibliographie, einzuladende TeilnehmerInnen sowie die pädagogische Ausgestaltung der jeweiligen thematischen Treffen. Das in den Modulen Ausgearbeitete wird im Raum der Versammlung mit den anderen geteilt. Die Selbstorganisationsprozesse sind die transversale Achse, die alle fünf Module durchzieht: Selbstorganisation der Arbeit, politische Selbstorganisation, ökonomische Selbstorganisation, kommunikative Selbstorganisation, Selbstorganisation der theoretischen Praxis. Der Lehrstuhl selbst stützt sich ferner auf zwei transversale Räume: einen Raum der Untersuchung und der pädagogischen Bildung und einen Raum für Denklaboratorien und Buchpräsentationen, die im Laufe der Erfahrung konkretisiert werden. Der Lehrstuhl ist in allen seinen Instanzen offen für die Teilnahme auf Basis früherer Vereinbarungen sowie im Einvernehmen mit den Kriterien, die die Instanzen vorgeben, aus denen sich der Lehrstuhl zusammensetzt. Voraussetzung für die Teilnahme ist die Berücksichtigung der Definitionen, und die Verwirklichung der Aufgaben, die sich jede Instanz des Lehrstuhls zu realisieren vornimmt. Zusammenfassend, die Teilnahme ist in jeder Instanz offen für alle; die einzige Bedingung ist das in der Praxis andauernde Begehren, sich an der im Lehrstuhl gestalteten Erfahrung zu beteiligen. Was die Finanzierung angeht, diese wird durch die Realisierung periodisch stattfindender Parties sichergestellt. Unser Ausgangspunkt sind folgende Hypothesen:
Unser gemeinsamer Nenner ist unser Begehren, die Verhältnisse, in denen wir leben zu verändern. Wir leisten Widerstand, indem wir in den Räumen, in denen sich unsere Existenzen gewöhnlich vollziehen (Universität, Arbeit usw.), aber auch ausgehend von diesen, andere Weisen zu leben erfinden. Wenn also Subjektivität Lebensformen bedeutet, dann weisen unsere Fragen direkt auf die gegenwärtige Subjektivitätsproduktion: Wie werden gegenwärtig Lebensformen erzeugt? Anders gesagt: Wie funktionieren die Dispositive der Subjektivitätsproduktion, die wir gegenwärtig vorfinden? Welche generischen Verfahren gewährleisten tatsächlich eine singuläre Subjektivitätsproduktion, aus dem Inneren der von uns gestalteten Versuche? Welche Elemente des Wissens und welche Machtformationen bestimmen unser Leben von außen und beeinflussen unsere Entfaltung? Die Entscheidung einen Raum der Selbstbildung zu gestalten, ist die Antwort auf ein konkretes Problem, vor das wir uns gestellt sahen: die Notwendigkeit, bestimmte Weisen zu denken auch innerhalb der staatlichen Universität zu ermöglichen. Wir brauchen daher Dispositive des Denkens, die wir unter den gegebenen universitären Bedingungen nicht vorfinden. Der experimentelle Lehrstuhl ist eine Hypothese, die darauf abzielt wirksame Prozeduren für eine Wissensselbstverwaltung zu materialisieren/hervorzubringen – unter den Bedingungen einer Hegemonie von Marktdynamiken sowie eines Verfalls der staatlichen Universität. Wir vergessen jedoch nicht auf die staatliche Universität; vielmehr versuchen wir, uns auf andere Weise, ausgehend von einer konstituierenden Kritik, mit der staatlichen Universität zu verbinden. Anstatt uns mit ihr zu konfrontieren oder sie zu ignorieren, versuchen wir, die wir an dieser Erfahrung partizipieren, die Universität aus einem selbstverwalteten Projekt heraus zu erfahren. Es gab – und gibt immer noch – viele Erfahrungen mit freien Lehrstühlen in der staatlichen Universität. Trotzdem wird im Fall des experimentellen Lehrstuhls für Subjektivitätsproduktion mit einer anderen Art von Übergang experimentiert: Von den freien Lehrstühlen, die darauf ausgerichtet sind, andere zu bilden – zu verleiten oder zu überzeugen – zur Entscheidung, einen Raum für unsere Selbstbildung zu gestalten. Diese Situation schließt die Anwesenheit anderer Personen außerhalb der Versammlung, die das Projekt gestaltet. Im Gegenteil: Der Mechanismus der Selbstbildung durchkreuzt die Distanz, die zwischen OrganisatorInnen/AktivistInnen und externen TeilnehmerInnen besteht. Die Vorstellung eines externen Handelnden selbst kommt uns abhanden, da unser Versuch darin besteht, eine Immanenzebene für eine kollektive Produktion zu erzeugen. Es gibt daher kein zu eroberndes oder zu befähigendes akademisches Publikum mehr; was bleibt, ist eine Zusammensetzung von Singularitäten, die diese Immanenzebene zur Selbstbildung besiedeln. Der experimentelle Lehrstuhl für Subjektivitätsproduktion unterscheidet sich auch von einem internen Workshop einer politischen Organisation, da wir uns nicht selbst bilden, um mehr zu wissen oder um Wissen zu vermitteln, sondern um uns in dem von uns gestalteten kollektiv-öffentlichen Raum herzustellen. Wir halten daran fest: Die Erfindung eines Raums der (Selbst)Bildung, in dem ein Experimentieren mit neuen Formen versucht wird, um Erkenntnisse und ein kollektives Denken zu erarbeiten, miteinander zu teilen sowie zu produzieren, darf sich nicht die Ebene der behandelten Inhalte reduzieren, sondern muss ebenso jene der pädagogischen Dispositive in Angriff nehmen, die in diesem Raum angeregt werden. Zum Beispiel: Dispositive der Dynamiken und Beziehungen, die im Zuge der gemeinsamen Arbeit zwischen den Subjekten sowie zwischen den dabei ins Spiel gebrachten Wissensformen erzeugt werden. Das Wissen präsentiert sich uns als ein in unseren Lebensformen integriertes Element. Unser Einsatz besteht, dieses Wissen in ein nützliches Instrument zu verwandeln – statt in eine theoretische Institution. Die Idee Wissen als Instrument oder konzeptuelles Werkzeug einzusetzen, muss für ihre Konstituierung durch neue Formen, eine Bildungspraxis in Angriff zu nehmen, begleitet werden. Daher begeben wir uns auf die Suche nach neuen pädagogischen Wegen, die begangen werden können, um eine solche Aufgabe zu realisieren. Unter diesem Gesichtspunkt erachten wir die Methodologie als Instrument zur Produktion (von Denken, Strategien, Problematisierungen). Wir erforschen neue methodologische Mittel als Alternativen zur akademischen Erklärung, weil wir glauben, dass man sich dort, wo diese Erklärung vorherrscht, vor allem auf ein rein erklärendes Wissen beruft; ein Wissen, das kaum jemals in Situationen zur Anwendung kommt, da die theoretischen Mittel von Anfang an nicht als konzeptuelle Werkzeuge für ein Operieren in konkreten Situationen gedacht werden, sondern vielmehr ein konzeptuelles Wissen darstellen, das erst erlernt und dann abspeichert. Wir dagegen glauben, dass sich die Universität als Raum für ein kollektives Denken und eine Reflexion über ein gemeinsames Leben konstituieren muss. Die Funktion der Universität besteht darin, ausgehend von verfügbarem Wissensformen eine Reflexion über gesellschaftliche Probleme zu unterstützen und außerdem ein neues und mobiles Wissen zu produzieren, das dazu beiträgt, Lösungen, Vorschläge sowie Methoden zu finden, um diese Probleme in Angriff zu nehmen. Wenn wir die Beziehung des experimentellen Lehrstuhls für Subjektivitätsproduktion mit dem „Außen“ denken, wird Folgendes deutlich: Es ist unmöglich, „das Außen“ auf eine Logik zu reduzieren. „Außen“ ist nicht eine Sache – außerhalb existieren eine Vielfalt von Institutionen, Bewegungen und Tendenzen. Es gibt nicht ein Außen: Was es dagegen gibt, ist eine Menge vielfältiger Referenzen, Mehrdeutigkeiten und unbenannter Möglichkeiten. Wenn also nicht ein Außen existiert, dann existiert es streng genommen auch nicht ein Innen. Der Raum wird durch seine Bewegungen und durch die Bewegungen der Anderen bestimmt. Diese vielfältigen Modulationen lassen sich vielleicht in einer bestimmten Vorstellung der Universität darlegen: ein achtsamer, beweglicher, verbindender und nicht selbstreferentieller Raum. Ausgehend davon, dass zahlreiche Kontakte existieren und wir jedes Mal andere Mittel ins Spiel bringen, können wir nun in groben Zügen aufzeigen, welche Methoden am häufigsten zur Anwendung kommen, die auf den (bzw. auf die Beziehung mit dem) experimentellen Lehrstuhl für Subjektivitätsproduktion verweisen:
Viele haben angemerkt, dass der Raum des Experimentellen Lehrstuhls auf dem Gelände der universitären Institution gestaltet wird. Nicht „im Inneren“ und „nicht im Rahmen“ der Universität. Dieses seltsame Miteinander überrascht, da die zu erwartende politische Geste im Exodus bestünde; nicht jedoch darin, das Lager hier aufzuschlagen. Im Gegensatz zu vielen Projekten, die sich von der Universität zurückgezogen haben, bleibt der Lehrstuhl auf deren Gelände. Es handelt sich dabei nicht um eine ideologische Frage und auch nicht um das Ergebnis einer Veränderung. Sich an der Universität zu verorten, hat schlicht mit der Verfügbarkeit von Mitteln zu tun. Andererseits verstehen wir den experimentellen Lehrstuhl zudem als einen Raum, in dem mit Dispositive zur Produktion und zum Austausch von Erkenntnis experimentiert werden kann. In diesem Sinn hält sich der Lehrstuhl nicht nur auf Distanz zur Universität, sondern deutet in der staatlichen oder privaten Universität produzierte Praktiken und Wissensformen um und kombiniert diese neu. Ein Beispiel: Viele der Texte, mit denen wir arbeiten, sind akademische Texte. Trotzdem verwerfen wir sie nicht wegen ihrer Herkunft, sondern treffen eine Unterscheidung abhängig davon, ob uns ein Text produktiv oder unproduktiv erscheint. So verstanden stellt eine Universität nicht so sehr eine Gesamtheit von Texten dar, sondern eher ein Verfahren für die Lektüre dieser. Die Herausforderung besteht darin, Verknüpfungen herzustellen, den Blick vom Buch zu heben, und durch die Lektüre produktive Verbindungen zu anderen Erlebnissen operativ zu machen. Dies ist die politische Herausforderung.
Als der experimentelle Lehrstuhl gegründet wurde, war die öffentliche Präsentation der erste Raum der Sichtbarkeit, den sie erzeugte. Die Form der Präsentation war ziemlich überraschend für die lokalen akademischen Bräuche: gedimmtes Licht, Weingläser, minimal techno, Dialoge statt Monologe, keine Stühle und auch kein zentraler Tisch in der Fakultätsaula. Dies war eigenartig für jene, die einen klassischen „freien Lehrstuhl“ erwarteten; ein Lehrstuhl, in dem zwar Inhalte inkludiert werden, die in den Lehrplänen institutioneller Lehrstühle nicht behandelt werden, zugleich aber deren Dynamik respektiert. Unser Einsatz hier hat aber nicht nur mit Inhalten, sondern auch mit Praktiken zu tun. Das beinahe wichtigste Zeichen der Sichtbarkeit des experimentellen Lehrstuhls für Subjektivitätsproduktion sind die jeden Freitag realisierten Zusammentreffen: die Treffen in den Arbeitsmodulen. In diesem Raum machen wir erste Erfahrungen mit einer zeitlich andauernden Beziehung mit anderen Personen. Außerdem experimentieren wir abwechslungsreiche und unerwartete Formen des Zusammentreffens: Es finden sich einerseits Personen ein, die sich darauf „beschränken“, den Lektüren zu folgen; andererseits jedoch auch Personen, die die im experimentellen Lehrstuhl aufgeworfenen Problematiken mit eigenen Überlegungen verknüpfen und neue Elemente einbringen, die die Diskussion bereichern; und schließlich jene, die im Lauf der Zeit an Organisation des Raumes teilhaben. Diese Figuren schließen sich weder zwangsläufig aus, noch müssen sie aufeinander folgen.
Man kann sagen, dass unsere „Einladungspolitik“ mit den Problematiken, die in den Modulen diskutiert werden, zusammenhängt. Wir verstehen die Zusammenkünfte mit Gästen als eine (weitere) Gelegenheit des Denkens. Wir haben uns schon damit konfrontiert, dass wir eine bestimmte, Vermittlungslogik reproduzieren, die mit einer akademischen Vorgehensweise zusammenhängt: Vortragende(r) – Zuhörende(r), Monopol der Rede – Monopol des Zuhörens. Trotzdem glauben wir, dass nach einer modulartigen Arbeitserfahrung sowohl die als Vortragende eingeladenen Personen wie auch die ZuhörerInnen, die ihnen eigentlich zugeteilten Rollen weder einnehmen können noch wollen. Die aus einer modulartigen Arbeitserfahrung resultierende Dynamik ist dialogischer und spannungsgeladener.
Zusammen mit GewerkschaftsvertreterInnen eines in der Stadt operierenden Call Centers haben wir eine längerfristige Zusammenarbeit begonnen. Fasst man diese Beziehung in Begriffen einer kollektiven Zusammensetzung, so könnte man sagen, dass diese Beziehung als dauerhaft gedacht wird. Sie entstand durch eine Einladung, die wir an die GewerkschaftsvertreterInnen herantrugen, damit sie uns im letzten Treffens des Moduls Arbeit von ihren Arbeitserfahrungen berichten. Nach einer Reihe von Diskussionen, die in einen Text mündeten, den wir im experimentellen Lehrstuhl für Subjektivitätsproduktion verfassten, der im geplanten Mitteilungsblatt der Gewerkschaft veröffentlicht wurde, stehen wir gegenwärtig in der Anfangsphase eines Projektes militanter Untersuchung, das wir auf unseren Vorschlag hin, gemeinsam weiterführen wollen. Die Idee ist Folgende: Wir problematisieren unsere Praktiken (sowohl die politischen wie auch jene der Untersuchung); das heißt wir befragen sie in einer Art und Weise, die es uns erlaubt, vielfältige Vorgehensweisen zu produzieren, die zugleich viele verschiedene Interventionsstrategien implizieren. Ob erwartetet oder unerwartet, vorhersehbar oder unvorhersehbar, die Diskussion ausgehend von den Problemen, die im Zuge der Erfahrung aufgetaucht sind, förderte immer die Reifung des experimentellen Selbstverwaltungsprozesses. Wir verstehen „Probleme“ daher als Spannungen, die jeder instituierenden Praxis innewohnen. Eine Politik des Ereignisses bzw. eine Politik des Experiments kann es nur geben, wenn man sich einer Treue zu den Ereignissen verschreibt und diese Ereignisse, die sich in einer (sogar von sich her) konstituierende Praxis ausspannen, auch bekannt macht. Diese ethische Position gesteht ein und nimmt vorweg, dass es für ihre konkrete Praxis keine im vorab berechenbare Logik und Methodologie gibt. Vielmehr können Methode und tatsächliche Verwirklichung der Projekte nur durch Beteiligung und Selbstreflexion erreichen werden; und das, was in einem bestimmten Moment passiert, führt aufgrund der Kraft der Ereignisse immer wieder zu neuen Methoden. Es ist genau diese Ethik, die uns abverlangt, dass wir all unser Vermögen und unsere Virtualitäten mittels pädagogischer Dispositive, experimenteller Vokabularien, Arbeitsgruppen und den Techniken der Selbstführung wie der Führung von anderen zur Anwendung bringen, damit wir im Laufe der Erfahrung in den Bereich der Fragen und Antworten, in den Raum von Spannungen und Problematisierungen eintreten können. Eine solche politische Praxis hat aber auch Konsequenzen: Die hervortretenden Anspannungen fordern uns eine Anstrengung der Reflexion und des Ausgleichs ab, ohne die sich das Experiment in der Gruppe selbst schwächen würde. Für diese Fälle ist der Versammlungsraum des Lehrstuhls vorgesehen: In diesem Raum arbeiten wir wöchentlich zu den kommenden Ereignissen und zu konkreten Analysatoren, die unsere Erfahrung, wenn sie sich nicht mobilisieren, befragen und in Unruhe versetzen. Ein Problem, vor das wir uns im Zuge der Erfahrung gestellt sahen, bestand darin, dass neue Personen in den experimentellen Lehrstuhl kamen – entweder zu den Modulen oder zur Versammlung –, welche die im Kollektiv getroffenen Entscheidungen und Vereinbarungen bzw. die Arbeit, die wir während der ersten Monate realisiert hatten, entweder nicht kannten oder nicht missachteten. Angesichts dieser Situation sahen wir uns mit ersten Spannungen konfrontiert, die sich auf grundsätzliche Vereinbarungen bezüglich des Teilnahmemodus im experimentellen Lehrstuhl für Subjektivitätsproduktion bezogen: Die Partizipation ist offen für all jene, die sich an diesem kollektiven Experiment beteiligen wollen und können. Die Spannung entstand durch die ethische Anerkennung der radikalen Alterität – der Anerkennung all dieser zufälligen und anonymen anderen als potenzielle Problemquelle und genau darum wichtiger Teil des Experiments – sowie durch die Anerkennung der Ereignisse, die in diesem Experiment gerade geschehen. Jedes Ereignis hat seine relative Geschichte und Wichtigkeit und spielt eine Rolle für die Entwicklung der Gruppe; allerdings wurden die Ereignisse von jenen, die nicht Teil derselben waren, häufig unterschätzt (weil sie später zur Gruppe dazukamen und von dem bereits Geschehenen nichts wussten). Aus dieser ersten Spannung resultierte die Umformulierung der Einladungsmodi: „Der Lehrstuhl ist in allen seinen Instanzen offen für die Teilnahme auf Basis früherer Vereinbarungen sowie im Einvernehmen mit den Kriterien, die die Instanzen vorgeben…“ Wäre diese ermöglichende Konditionierung auch ohne jene Spannung möglich gewesen, die aus dem gelebten Prozess des Experimentierens resultierte? Brachte uns diese Umformulierung nicht genau auf die Frage der Subjektivierung zurück, die mit im Spiel ist? Sehen wir nicht gerade jetzt mit einem Subjektivierungsprozess konfrontiert, der den Möglichkeitsraum durch eine permanente Geste retrospektiver Reflexion, Dekonstruktion sowie Institution erzeugt und ausdehnt? Situationen wie diese kehren nicht nur periodisch wieder, sondern sind vielmehr das Kernstück unseres ethisch-politischen Experiments. Daher können wir, ohne zu zögern, sagen, dass die Spannungen ein neuralgisches, obwohl manchmal einschüchterndes, Element unserer Produktionsweise sind. Bei der Gründung des experimentellen Lehrstuhls gingen wir von einer Vermutung aus: Die staatliche Universität erzeugt keine studentische Subjektivität. Sie hinterläßt keine Spuren in den Studierenden. Vielmehr handelt sich um eine Institution, die als Sammelbehälter fungiert für Menschen auf der Suche nach einem Diplom, das ihnen für den Eintritt in Arbeitsmarkt mehr Wirksamkeit verleiht. Trotzdem erkannten wir zu Beginn unseres Projekts im Mai die Schwierigkeiten, die mit der Umsetzung der pädagogischen Dispositive einhergehen, wenn sie sich von den typischen akademischen Methoden absetzen; Methoden, die wir alle während unseres Transits durch die staatliche Erziehung erlitten haben. Während der von uns initiierten Zusammentreffen tauchte mit einiger Regelmäßigkeit und Hartnäckigkeit die Figur der „erklärenden LehrerIn“ auf, die durch die KoordinatorInnen der in Bewegung versetzten Dispositive verkörpert wurde. Obwohl wir Texte verwendeten, die in der Universität normalerweise nicht behandelt werden, blieben sowohl die pädagogische Aktivität, die sich auf Erklärung gründet, wie auch die subjektiven Effekte zwischen den Partizipierenden identisch mit jenen in einer offiziellen Klasse: Passivität, Langeweile und Hierarchisierung zwischen „Lehrenden“ und „Studierenden“. Aber wir sahen uns nicht nur mit dieser Figur der erklärenden Lehrenden konfrontiert. Gleichzeitig tauchte ein anderes sehr akutes Problem auf: Ein Mangel an pädagogischen Dispositiven, die wirksam genug sind, um die Ausbreitung dessen zu verhindern, was wir „Meinungen“ nennen. Unter Meinung verstehen wir eine Aussage, die in einem kollektiven Raum getätigt wird und die GesprächspartnerInnen subjektiv nicht berührt; das heißt, eine Aussage, die keine zusammenhängenden, sondern vielmehr zerstreuende Effekte hervorbringt. Die massive Ausbreitung nicht zusammenhängender, mechanischer Meinungen zu den unterschiedlichsten Themen ist eine der Medienwelt eigene Operation. Die Meinungsäußerung entspricht viel eher einem durch die Medien beförderten Automatismus als einem BürgerInnenrecht. In den ersten Zusammentreffen des experimentellen Lehrstuhls für Subjektivitätsproduktion beförderte das Fehlen bzw. die Schwäche eines entsprechenden pädagogischen Dispositivs das Auftauchen unterschiedlichster Worte, Behauptungen und Aussagen, die wenig bzw. gar nichts mit der thematische Achse zu tun hatten, die wir behandeln wollten. Was waren die Effekte dieses „Meinungssyndroms“? Verwirrung über die vorgeschlagenen Ziele sowie eine gefühlsmäßige Leere trotz einer großen Anzahl von TeilnehmerInnen. Eine Reihe von Überlegungen nach unseren Diskussionen in den Versammlungen brachte uns dahin, unsere Anstrengungen einer methodologischen Ausgestaltungsarbeit zu verstärken. Nicht ohne gebührende Arbeit haben wir uns schließlich pädagogische Dispositive angeeignet, die sich von der „erklärenden LehrerIn“ bzw. der reinen „Meinungsüberlagerung“ distanzieren und uns so tatsächlich ein gemeinsames selbstverwaltetes Denken in actu ermöglichen. In den ersten Zusammentreffen wurde das in jeder einzelnen Arbeitsgruppe Produzierte gegen Ende dieser Zusammentreffen miteinander geteilt. Diese Operation der „Sozialisierung“ des in der Arbeitsgruppe Erarbeiteten nennen wir Plenum. Nach zwei Monaten stellten wir jedoch fest, dass das Plenum sich eher in eine Instanz der Zurschaustellung und der Meinung verwandelt hatte als in einen Raum der Erarbeitung. Das Plenum wurde zu einer Gelegenheit, um Einverständnis oder Uneinigkeit mit einer AutorIn zu bekunden bzw. um Belesenheit zur Schau zu stellen, anstatt eine Erfahrung der selbstverwalteten Erarbeitung konzeptueller Werkzeuge möglich zu machen. Das Ende der plenaren Form zu denken, versetzte uns hingegen in eine Spannung: Im letzten Treffen des Moduls Staat und auch im Modul Markt schlugen die Koordinierungsgruppen eine Bilanzierung der durchgeführten Arbeit vor (pädagogische Dispositive, Koordinierungsweisen usw.). Das produktive Resultat dieser Bilanzierung, die intensive Debatten mit sich brachte, warf eine andere Frage auf, und brachte zugleich eine andere Subjektivität auf den Plan: Man könnte sagen, dass die Studierenden oder die Partizipierenden in diesem Moment (nach vier Monaten experimenteller Aktivität und nach neun Monaten der Existenz als Lehrstuhls) eine Reflexion über den Arbeitsprozess, der die Modalität der Wissensselbstverwaltung bestimmt, einforderten. Nachdem dieses Charakteristikum erkannt wurde, ließ die Frage nicht mehr lange auf sich warten: Wieso sollen wir das Plenum als Synthese dessen verstehen, was in den am Freitag stattfindenden Diskussionsgruppen erarbeitet worden war? Es scheint, dass wir dieses Dispositiv (das Plenum) in der aktivistischen Erfahrung unzählige Male ohne die geringste Reflexion erprobt hatten. Diese Art von Raum, den wir am Ende jedes Zusammentreffens organisierten, und aus dem nur sehr wenige produktive Elemente hervorgingen, begann viele der am Lehrstuhl Partizipierenden zu beunruhigen und schließlich sogar zu vertreiben. Zugleich verwandelte es sich in ein Hindernis und ein Problem hinsichtlich des gemeinsamen öffentlichen Raums, den wir zu formen versuchten. Nach einer Reihe kollektiver Diskussionen wurde das Problem deutlich: Plena abzuhalten ist keine Garantie dafür, dass irgendetwas Gemeinsames entsteht. Damit irgendetwas Gemeinsames zirkulieren kann, muss die Erfahrung einer gemeinsamen Wegstrecke, eines kollektiven Projekts gemacht werden. Aus dieser Projektlaufbahn können dann die Probleme hervorgehen, die die Zusammensetzung des Projekts verändern und stärken. Die begründenden Fragen „wozu“, „warum“, „wo“ und „wie“ wiederholen sich während des Prozesses beharrlich und manifestieren so eine Vielheit … ohne totalisierende Synthese.
|
Cátedra experimental sobre producción de subjetividadBirgit Mennel (translation)languagesEspañol Deutsch Englishtransversalinstituent practices |