01 2007 Extradisziplinäre Forschungen. Für eine neue Institutionenkritik
Übersetzt von Thomas Waibel Brian Holmes
Was
ist die Logik, die Notwendigkeit oder das Begehren, das immer mehr KünstlerInnen
dazu bringt, außerhalb der Grenzen ihrer eigenen Disziplin zu arbeiten, die
durch die Begriffe der freien Reflexivität und der reinen Ästhetik definiert,
in der Verbindung Galerie-Zeitschrift-Museum-Sammlung verkörpert sind und die
von der Erinnerung an die normativen Genres der Malerei und Bildhauerei heimgesucht
werden?
Pop-Art, Concept-Art,
Body-Art, Performance und Video markierten schon in den 1960 und 1970ern einen
Bruch mit dem disziplinären Rahmen. Man könnte argumentieren, dass diese
dramatisierten Ausbrüche lediglich die Themen, Medien oder expressiven
Techniken in das importierten, was Ives Klein die "spezialisierte"
Umgebung von Galerie und Museum genannt hat, die vom Vorrang des Ästhetischen
gekennzeichnet ist und von Kunstfunktionären verwaltet wird. Genau diese
Argumente hat Robert Smithson 1972 in seinem Text über die „Kulturbeschränkung“
eingesetzt und dann Brian O'Doherty in seinen Thesen zur Ideologie des weißen
Kubus[1]
wieder aufgenommen. Sie besitzen noch immer sehr viel Gültigkeit. Gerade jetzt
sind wir mit einer neuen Serie von Ausbrüchen unter solchen Namen konfrontiert
wie Net.art, Bio-Art, Visual Geography, Space-Art und Database-Art – zu denen
man die Archi-Art, oder die Kunst der Architektur, die überraschenderweise nie
so getauft wurde, ebenso zählen könnte wie die Machine-Art, die bis zum
Konstruktivismus der 1920er zurück reicht, oder sogar die „Finance-Art“, deren
Geburt in der Casa Encendida von Madrid im vergangenen Sommer angekündigt
wurde.
Der heterogene Charakter
dieser Aufzählung deutet ihre Anwendung in allen Bereichen an, in denen sich
Theorie und Praxis treffen. In den künstlerischen Formen, die daraus
hervorgehen, wird man immer Überreste des alten modernistischen Tropismus
entdecken, durch den die Kunst sich vor allem selbst bezeichnet und die
Aufmerksamkeit zurück auf ihre eigenen Operationen von Ausdruck,
Repräsentation, Metaphorisierung oder Dekonstruktion lenkt. Unabhängig davon,
um welches „Sujet“ immer es sich handelt, tendiert die Kunst dazu, aus ihrer
Selbstreflexion ein unterscheidendes oder identifizierendes Merkmal und sogar ihr
raison d’être zu machen, in einer Geste, deren philosophische Legitimität von
Kant etabliert wurde. Aber in der Art von Arbeit, die ich besprechen will,
steht noch etwas mehr auf dem Spiel.
Wir können uns ihr mit
dem Begriff annähern, mit dem das Nettime-Projekt seine kollektiven Absichten
zu definieren pflegte. Für die Künstler, Theoretiker, Medienaktivisten und
Programmierer, die diese Mailing-list – einer der wichtigsten Vektoren von
net.art in den späten 1990ern – bewohnten, ging es darum, eine „immanente
Kritik“ des Internet, d.h. der technowissenschaftlichen Infrastruktur, die sich
damals in Konstruktion befand, zu formulieren. Diese Kritik wurde innerhalb des
Netzwerks selbst ausgetragen, indem dessen Sprachen und technische Werkzeuge
benutzt und auf seine charakteristischen Objekte mit der Absicht bezogen wurden,
seine Entwicklung zu beeinflussen oder sogar direkt zu gestalten – ohne aber
die Verbreitungsmöglichkeiten außerhalb dieser Verbindungen abzulehnen.[2] Es wurde
eine Bewegung in zwei Richtungen entworfen, die darin besteht, ein Feld zu
besetzen, das das Potenzial hat, die Gesellschaft aufzurütteln (Telematik) und
dann aus diesem spezialisierten Bereich mit der explizit formulierten Absicht hinauszustrahlen,
eine Veränderung sowohl in der Disziplin der Kunst auszulösen (die für zu
formalistisch und narzisstisch gehalten wird, um aus ihrem eigenen bezaubernden
Zirkel auszubrechen), als auch in der Disziplin der Kulturkritik (die für zu
akademisch und historizistisch gehalten wird, um den gegenwärtigen
Veränderungen zu begegnen) und sogar in der „Disziplin“ – wenn man sie so
nennen kann – des linken Aktivismus (der für zu doktrinär, zu ideologisch
gehalten wird, um die Ereignisse der Gegenwart zu begreifen).
Hier sind ein neuer Tropismus
und eine neue Art von Reflexivität am Werk, die KünstlerInnen ebenso wie
TheoretikerInnen und AktivistInnen an einem Übergang jenseits der Grenzen
beteiligt, die ihren Praktiken traditionellerweise zugeschrieben werden. Das
Wort Tropismus drückt den Wunsch oder die Notwendigkeit aus, sich etwas anderem
zuzuwenden, einem externen Feld oder einer externen Disziplin; während der
Begriff von Reflexivität jetzt eine kritische Rückkehr zum Ausgangpunkt
anzeigt, um die ursprüngliche Disziplin zu verändern, ihre Isolierung zu
beenden und neue Möglichkeiten von Ausdruck, Analyse, Kooperation und
Verbindlichkeit zu eröffnen. Diese vor und zurück Bewegung, oder besser diese
transformierende Spirale ist das Bewegungsprinzip dessen, das ich extradisziplinäre
Forschungen nennen werde.
Der Begriff wurde im
Versuch geschmiedet, über eine Art von doppelter Ziellosigkeit hinauszugehen,
die sich auf die gegenwärtige Deutungspraxis auswirkt, einen durchaus
doppelten Dérive, doch ohne die revolutionären Qualitäten, nach denen die
Situationisten gesucht hatten. Ich denke dabei erstens an die Inflation von
interdisziplinären Diskursen in den akademischen und kulturellen Kreisen: ein
virtuoses System der Kombinatorik füttert die symbolische Mühle des kognitiven
Kapitals, indem es als eine Art von Zusatz zu den endlosen Windrädern der
Finanzierung selbst agiert (der Kurator Hans-Ulrich Obrist ist ein Spezialist
dieser Kombinatorik). Zweitens gibt es einen Zustand von Disziplinlosigkeit,
der ein unerforschter Effekt der anti-autoritären Revolten der 1960er Jahre
ist, in der sich das Subjekt einfach den ästhetischen Forderungen des Marktes
hingibt (in der Neopop-Strömung bedeutet Disziplinlosigkeit die endlose
Wiederholung und Vermischung im Fluss vorgefertigter kommerzieller Bilder).
Obwohl sie nicht dasselbe bedeuten, sind Interdisziplinarität und
Disziplinlosigkeit die beiden meist gebrauchten Entschuldigungen für die
Neutralisierung bedeutender Untersuchungen geworden.[3] Doch
es gibt keinen Grund sie anzuerkennen.
Das extradisziplinäre
Bestreben besteht darin, rigorose Forschungen auf Gebieten durchzuführen, die
so weit von der Kunst entfernt sind wie Finanz, Biotechnologie, Geographie,
Urbanismus, Psychiatrie, das elektromagnetische Spektrum, etc., um auf diesen
Gebieten das „freie Spiel der Möglichkeiten“ und das intersubjektive Experiment
zu ermöglichen, die für die moderne Kunst charakteristisch sind. Es besteht
aber auch im Versuch, innerhalb derselben Bereiche den spektakulären oder
instrumentellen Gebrauch auszumachen, der so oft von der subversiven Freiheit
des ästhetischen Spiels gemacht wird – wie es der Architekt Eyal Weizman auf
exemplarische Weise tut, wenn er die Vereinnahmung untersucht, die das
israelische und amerikanische Militär von etwas macht, das anfänglich als
subversive architektonische Strategie entworfen worden war. Weizman fordert mit
seinen Karten der Sicherheitsinfrastruktur in Israel die Militärs auf ihrem
eigenen Gebiet heraus; aber was er davon zurückbringt, sind Elemente für eine
kritische Überprüfung dessen, was seine exklusive Disziplin gewesen war.[4] Diese
komplexe Bewegung, die die Existenz der verschiedenen Disziplinen nie
vernachlässigt, sich aber auch nie von ihnen einfangen lässt, kann einen neuen Ausgangspunkt für das
bieten, was Institutionskritik genannt worden ist.
Geschichten in der
Gegenwart
Was retrospektiv als
„erste Generation“ der Institutionenkritik etabliert worden ist, schließt
Personen wie Michael Asher, Robert Smithson, Daniel Buren, Hans Haacke und
Marcel Broodthaers ein. Sie haben die Konditionierung ihrer eigenen Aktivität
im ideologischen und ökonomischen Rahmen des Museums untersucht, und zwar mit
dem Ziel, aus ihm auszubrechen. Sie hatten zu den anti-institutionellen
Revolten der 1960er und 1970er Jahre und zur begleitenden philosophischen
Kritik eine starke Beziehung.[5] Der
beste Weg, ihren besonderen Blickwinkel auf das Museum zu begreifen, ist ihn
nicht als selbst verordnete Grenze oder als Fetischisierung der Institution zu
verstehen, sondern als Teil einer materialistischen Praxis, die sich ihres
Kontexts deutlich bewusst ist, aber darüber hinausgehende transformatorische
Absichten hegt. Wie auch immer, um herauszufinden wo ihre Geschichte hinführt,
müssen wir die Schriften von Benjamin Buchloh betrachten und uns ansehen, wie
er die Entstehung der Institutionskritik entwirft.
In einem Text, der
„Conceptual Art 1962-1969“ betitelt ist, führt Buchloh zwei entscheidende
Entwürfe von Lawrence Weiner an. Der erste ist „Ein Viereck, von einem
gebrauchten Teppich abgetrennt“ und der zweite „Eine 36’’ x 36’’ Entnahme einer
Lattenverschalung oder einer Stützmauer aus Gips oder einer Sperrholzwand“
(beide 1968)*. Bei beiden geht es
darum, die möglichst am meisten selbstbezügliche und tautologische Form zu
nehmen – das Quadrat, bei dem jede Seite die anderen vervielfältigt und
wiederholt – und in eine Umgebung einzufügen, die von den Determinierungen der
sozialen Welt bestimmt ist. Buchloh schreibt: „Beide Interventionen schreiben
sich – während sie ihre strukturellen und morphologischen Verbindungen mit den
formalen Traditionen durch den Respekt vor der klassischen Geometrie
beibehalten... – selbst in die tragenden Oberflächen der Institutionen u/o in
die Heimat ein, die diese Tradition immer verleugnete.... Auf der einen Seite
wird die Erwartung zerstreut, den Kunstwerken nur in einer ‚spezialisierten’
und ‚qualifizierten’ Umgebung zu begegnen... Auf der anderen Seite könnte keine
dieser Oberflächen je unabhängig von ihrer institutionellen Verortung begriffen
werden, denn die physische Einschreibung in jede besondere Oberfläche bringt
unvermeidlich kontextuelle Lesarten hervor...“[6]
Weiners Aussagen sind
offensichtlich eine Variante von immanenter Kritik, und sie funktionieren auf
gleicher Ebene mit den diskursiven und materiellen Strukturen der
Kunstinstitutionen; aber sie fungieren als rein logische Deduktion von
minimalistischen und konzeptionellen Voraussetzungen. Sie nehmen die
symbolischen Aktivitäten von Gordon Matta-Clarks „Anarchitecture“-Werken ebenso
deutlich vorweg, wie ‚Zertrümmerung’ (1973) oder ‚Fensterbruch’* (1976), die den Galerieraum mit urbaner
Ungleichheit und rassistischer Diskriminierung konfrontiert hatten. Von diesem
Ausgangspunkt aus hätte eine Geschichte der künstlerischen Kritik über die
Künstlermobilisierung rund um die AIDS-Epidemie in den späten 1980ern zu den
gegenwärtigen Formen von Aktivismus und technopolitischer Forschung führen
können. Aber die am weitesten verbreiteten Lesarten der Kulturgeschichte der 1960er
und 1970er Jahre haben diese Wendung nie gemacht. Dem Untertitel von Buchlohs
bekanntem Text zufolge nahm die teleologische Bewegung der spät-modernistischen
Kunst in den 1970ern ihren Kurs „von der Ästhetik der Verwaltung zur institutionellen Kritik“. Das käme einer strikt Frankfurterischen Vision vom Museum
als einer idealisierten Aufklärungsinstitution gleich, die vom bürokratischen
Staat und vom Marktspektakel verdorben wurde.
Es könnten auch andere
Geschichten geschrieben werden. Auf dem Spiel steht der gespannte Double-bind
zwischen dem Wunsch, die spezialisierte „Zelle“ (wie Brian O’Doherty die
modernistische Galerie beschrieb) in ein bewegliches Potenzial von lebendigem
Wissen zu verwandeln, das in die Welt hinausreicht und die Gegen-Bewusstwerdung,
nach der alles, was diesen spezialisierten ästhetischen Raum betrifft, eine
Falle ist und als eine Art Einschluss institutionalisiert wurde. Diese Spannung
hat die prägnanten Interventionen von Michal Asher hervorgebracht, die
Presslufthammerangriffe von Hans Haacke, die paradoxen Verschiebungen von Robert
Smithson oder den melancholischen Humor und die poetische Phantasie von Marcel
Broodthaers, dessen versteckte Triebfeder ein jugendliches Engagement mit
revolutionärem Surrealismus war. Es ist entscheidend, die Vielfalt und
Komplexität von KünstlerInnen nicht zu reduzieren, die sich nie freiwillig zu
einer Bewegung zusammengeschlossen haben. Eine andere Reduktion kommt vom
besessenen Blickwinkel auf einen besonderen Ort der Präsentation, das Museum,
das entweder als ein verschwindendes Relikt der „bourgeoisen öffentlichen
Sphäre“ beklagt, oder in einem fetischisierenden Diskurs von „site
specificity“ verherrlicht wird. Diese beiden
Fallen werden im Diskurs der Institutionskritik aufgestellt, der in den späten 1980ern
und 90ern in den Vereinigten Staaten deutliche Form annimmt.
Das war die Periode der
so genannten „zweiten Generation“. Unter den meist zitierten Namen finden sich
Renee Green, Christian Philipp Müller, Fred Wilson oder Andrea Fraser. Sie
verfolgten die systematische Erforschung der musealen Repräsentation, indem sie
deren Verbindung zur ökonomischen Macht untersuchten und deren epistemologische
Wurzeln in einer kolonialen Wissenschaft, die die Anderen als Objekte
behandelt, um sie in einer Vitrine auszustellen. Aber sie fügten dem eine subjektivierende
Wendung hinzu, die ohne den Einfluss des Feminismus und der postkolonialen
Geschichtsschreibung unvorstellbar ist und die es ihnen erlaubte, äußerliche
Machthierarchien als Zwiespältigkeiten innerhalb des Selbst zu entwerfen und
damit eine konfliktive Sensibilität für die Koexistenz vielfältiger Formen und
Vektoren der Repräsentation zu eröffnen. Es gibt dabei insbesondere im Werk von
Renee Green eine fesselnde Auseinandersetzung zwischen spezialisierter
Diskursanalyse und verkörpertem Experimentieren mit menschlichen Sinnen. Doch
die meisten dieser Arbeiten wurden in Form von Metareflexionen über die Grenzen
der künstlerischen Praktiken selbst durchgeführt (Museumsbildschirmattrappen
oder verschriftete Video Performances) und sie wurden in Institutionen aufgeführt,
die immer unverhohlener ökonomisiert waren – bis zu dem Punkt, an dem es
zunehmend schwerer wurde, die kritische Forschung von ihren eigenen Vorwürfen
und ihren oft verheerenden Schlussfolgerungen abzuschirmen
Dieser Zustand von einem
kritischen Prozess, der sich selbst zum Objekt nimmt, brachte Andrea Fraser
neuerdings dazu, die künstlerische Institution als unüberschreitbaren, alles
definierenden Rahmen zu beschreiben, der durch seine eigene nach innen
gerichtete Kritik aufrechterhalten wird.[7]
Bourdieus deterministische Analyse von der Geschlossenheit der
sozio-professionellen Bereiche, vermischt mit einer gründlichen Verwechslung
von Webers eisernem Käfig mit Foucaults Wunsch „frei von sich selbst zu
werden“, ist hier verinnerlicht in eine Verwaltbarkeit des Versagens, in der
das Subjekt nicht mehr tun kann, als sein eigenes psychisches Gefängnis
entschädigt durch einige wenige ästhetische Luxusgüter zu betrachten.[8]
Unglücklicherweise fügt das Broodthaers hellsichtigem Testament, das 1975 auf
einer einzigen Seite formuliert wurde, sehr wenig hinzu.[9] Für
Broodthaers war die einzige Alternative zu einem schuldigen Gewissen die
selbstverordnete Blindheit – nicht gerade eine Lösung! Doch Fraser akzeptiert sie,
indem sie ihr Argument als einen Versuch darstellt, „die ganze Institution für
das zu verteidigen, was die Institution der Avantgarde-‚Selbstkritik’ als Potenzial
geschaffen hatte: die Institution der Kritik.“ Ohne irgendeine antagonistische
oder agonistische Beziehung zum Status Quo, und vor allem ohne irgendeine
Absicht, diesen zu verändern, wird das Verteidigte zu wenig mehr als einer
masochistischen Variante der sich selbst bedienenden „institutionellen
Kunsttheorie“, die von Danto, Dickie und deren Nachfolger vorangetrieben worden
ist (eine Theorie von gegenseitiger und zirkulärer Anerkennung unter den
Mitgliedern eines objektorientierten Milieus, das irreführenderweise eine
„Welt“ genannt wird). Die Schleife ist geschlungen, und was ein großformatiges,
komplexes, nachforschendes und transformierendes Projekt der 1960er- und
70er-Jahre-Kunst war, scheint eine Sackgasse erreicht zu haben mit den
institutionellen Konsequenzen von Selbstgefälligkeit, Bewegungslosigkeit,
Autonomieverlust und Kapitulation vor den verschiedenen Formen der
Instrumentalisierung...
Phasenverschiebung
Das Ende scheint
logisch, aber manche wollen noch viel weitergehen. Zunächst sind die Mittel,
Wege und Ziele einer möglichen dritten Phase der Institutionskritik neu zu
definieren. Der Begriff der Transversalität, der von den PraktikerInnen der
institutionellen Analyse entwickelt worden ist, hilft, um die Montage zu
theoretisieren, die Akteure und Ressourcen der Kunstbereiche mit Projekten und
Experimenten verbindet, die sich nicht innerhalb dieser Bereiche erschöpfen,
sondern sich vielmehr anderswo ausbreiten.[10]
Diese Projekte können nicht mehr länger unzweideutig als Kunst definiert
werden. Sie sind im Gegenteil auf einem Austausch zwischen den Disziplinen
gegründet und beziehen meist das wirklich kritische Reservoir von marginalen
oder gegenkulturellen Positionen mit ein – soziale Bewegungen, politische
Vereinigungen, Besetzungen, autonome Universitäten – die nicht auf eine
allumfassende Institution reduziert werden können.
Die Projekte tendieren
zur Kollektivität, auch wenn sie dabei die Tendenz zeigen, den Schwierigkeiten,
die die Kollektivität mit sich bringt, zu entfliehen, indem sie als Netzwerke
agieren. Ihre ErfinderInnen, die im Zeitalter des Universums des kognitiven
Kapitalismus erwachsen geworden sind, beziehen sich auf komplexe soziale
Funktionen, die sie in all ihren technischen Details im vollen Bewusstsein
dessen begreifen, dass die zweite Natur der Welt heute von Technologie und
organisatorischer Form geprägt ist. In beinahe jedem Fall ist es politisches
Engagement, das in ihnen den Wunsch weckt, ihren anspruchsvollen Forschungen
jenseits der Grenzen einer künstlerischen oder akademischen Disziplin
nachzugehen. Doch die analytischen Prozesse sind gleichzeitig auch expressiv,
und darum ist jede komplexe Maschine überschwemmt von Affekt und Subjektivität.
Wenn diese subjektiven und analytischen Seiten in den neuen produktiven und
politischen Kontexten der Kommunikationsarbeit eng ineinander greifen (und
nicht nur in den Metareflexionen, die einzig fürs Museum inszeniert werden),
dann kann man von einer „dritten Phase“ der institutionellen Kritik sprechen –
oder besser von einer „Phasenverschiebung“ in das, was früher als öffentliche
Sphäre bekannt war, ein Wechsel, der die Zusammenhänge und Formen der
kulturellen und intellektuellen Produktion im 21. Jahrhundert weitgehend
transformiert hat.
Eine Ausgabe von Multitudes, die vom Web-Journal transversal mit herausgegeben wurde,
gibt Beispiele von dieser Vorgangsweise.[11] Das
Ziel besteht darin, das problematische Feld einer erkundenden Praxis zu
entwerfen, die nicht neu ist, aber zweifellos einer Dringlichkeit entspringt.
Anstatt ein kuratorisches Rezept anzubieten, wollen wir neues Licht auf die
alten Probleme vom Einschluss in spezialisierte Disziplinen werfen, auf die
davon verursachte intellektuelle und affektive Lähmung und die Entfremdung von jeder demokratischen
Entscheidungsfindungsmöglichkeit, die insbesondere in hochkomplexen
technologischen Gesellschaften unvermeidlich darauf folgt. Ausdrucksformen,
öffentliche Intervention und kritische Reflexivität, die als Antwort auf diese
Verhältnisse entwickelt worden sind, können als extradisziplinär
charakterisiert werden – ohne jedoch den Begriff auf Kosten des Horizonts zu
fetischisieren, den er zu markieren versucht.
Wenn man die Arbeiten
und besonders die Artikel betrachtet, die von technopolitischen Themen handeln,
werden sich manche vielleicht fragen, ob es nicht interessant gewesen wäre, den
Namen Bruno Latour anzurufen. Sein Anliegen ist es „Dinge öffentlich zu
machen,“ oder genauer, die besondere Begegnung von komplexen technischen
Objekten mit spezifischen Prozessen der Entscheidungsfindung zu erläutern
(seien diese de jure oder de facto politisch). Dafür, sagt er, muss man in der
Form von „Beweisen“ verfahren, die so rigoros wie möglich gesetzt werden, aber
zur gleichen Zeit notwendigerweise so „durcheinander“ sind wie die Dinge der
Welt selbst.[12]
Es gibt etwas
Interessantes in Latours Erprobungsmaschine (auch wenn sie unmissverständlich
zur akademischen Produktivität von „Interdisziplinarität“ neigt). Die Sorge
darum, wie Dinge in der Gegenwart gestaltet werden und der Wunsch nach einem
konstruktiven Eingriff in die Prozesse und Entscheidungsfindungen, die sie
bestimmen, ist charakteristisch für diejenigen, die nicht mehr länger von einem
absoluten Außen und einer totalen Revolution des Jahres Null träumen. Wie auch
immer, es genügt, die KünstlerInnen zu betrachten, die wir zur Multitudes-Ausgabe
eingeladen haben, um die Unterschiede zu erkennen. So sehr man sich auch
bemühen mag, die 1750 km der Baku-Tiblisi-Ceyhan-Pipeline können nicht auf den
„Beweis“ von irgendetwas verkürzt werden, auch wenn Ursula Biemann sie in die
zehn bestimmten Bereiche der Schwarzmeerdateien verdichtet hat.[13]
Indem sie Aserbaidschan, Georgien und die Türkei durchquert, bevor sie ins
Mittelmeer mündet, stellt die Pipeline das Objekt politischer Entscheidungen
dar, auch wenn sie sich jenseits von Vernunft und Vorstellung erstreckt und den
ganzen Planeten mit der geopolitischen und ökologischen Ungewissheit der
Gegenwart verknüpft.
Auf ähnliche Weise
entstand der paneuropäische Transport- und Kommunikationskorridor, der durch
das ehemalige Jugoslawien, Griechenland und die Türkei geht, aus einem der
komplexesten Infrastrukturplanungsprozesse unserer Epoche, die auf
transnationaler und transkontinentaler Ebene durchgeführt worden sind. Er ist
von den Teilnehmern der Timescapes-Gruppe, gegründet von Angela Melitopoulos, gefilmt
worden. Die präzis gestalteten ökonomischen Projekte sind von der konfliktiven
Erinnerung an ihre historischen Präzedenzfälle unabtrennbar und dabei der
Vielheit von Verwendungsweisen unmittelbar ausgeliefert, einschließlich der
Inszenierung von massiven selbstorganisierten Protesten im bewussten Widerstand
gegen die Manipulation des täglichen Lebens durch den Planungsprozess des
Korridors. Menschliche Wesen wollen nicht zwangsläufig den lebendigen „Beweis“
von ökonomischen Thesen abgeben, die von oben herab mit machtvollen und
raffinierten Apparaten durchgeführt werden – inklusive medialer Maßnahmen, die
ihre Bilder und innersten Affekte verzerren. Das eindrückliche Schild eines
anonymen Protestierenden, das während der Demonstrationen, die das EU-Treffen
in Thessaloniki 2003 umgaben, vor den Fernsehkameras geschwenkt wurde, drückt
all das aus: JEDE ÄHNLICHKEIT MIT GEGENWÄRTIGEN PERSONEN ODER EREIGNISSEN IST
UNBEABSICHTIGT.[14]
Die Kunstgeschichte ist
in die Gegenwart getreten, und die Kritik der Repräsentationsbedingungen ist
auf die Straßen hinaus geströmt. Doch in derselben Bewegung haben die Straßen
ihren Platz in unseren Kritiken eingenommen. In den philosophischen Essays, die
wir ins Multitudes-Projekt aufgenommen haben, reimt sich Institution und
Konstitution immer auf Destitution.[15] Der
besondere Blick auf extradisziplinäre künstlerische Praktiken bedeutet nicht,
dass auf radikale Politik vergessen wurde, ganz im Gegenteil. Heute mehr als je
zuvor, muss jede konstruktive Forschung die Widerstandsniveaus potenzieren.
[1] Robert Smithson, „Cultural Confinement“ (1972), in Jack Flam (Hg.),
Robert Smithson: The Collected Writings, Berkeley, U.C. Press, 1996, deutsche
Übersetzung: Kulturbeschränkung, in Christian Kravagna (Hg.), Das Museum als
Arena. Institutionskritische Texte von KünstlerInnen, Köln, König, 2001, 17f.;
Brian O’Doherty, Inside the White Cube: The Ideology of the Gallery Space
(erweiterte Edition), Berkeley, U.C. Press, 1976/1986.
[2] Vgl. die Einführung zur
Anthologie: ReadMe!, New York, Autonomedia, 1999. Eines der besten Beispiele
von immanenter Kritik ist das Projekt „Name Space“ von Paul Garrin, das dazu
beitrug das Domain Name System (DNS) neu zu bearbeiten, das das Netz zu einem
navigierbaren Raum macht; S. 224-29.
[3] Vgl.: Brian Holmes, „L’extradisciplinaire,“ in Hans-Ulrich Obrist u.
Laurence Bossé (Hg.), Traversées, cat. Musée ‘art moderne de la Ville de Paris,
2001.
* Die Titel der Werke im Original: ‚A Square
Removed from a Rug in Use’ und ‚A 36”x 36” Removal to the Lathing or Support
Wall of Plaster or Wallboard from a Wall’. (A.d.Ü.)
[6] Benjamin Buchloh, „Conceptual Art 1962-1969: From the Aesthetics of
Administration to the Critique of Institutions,“ October 55 (Winter 1990). Eine gekürzte deutsche Version des Textes ist veröffentlicht als "Von der Ästhetik der Verwaltung zur institutionellen Kritik. Einige Aspekte der Konzeptkunst von 1962-1969", in Marie Luise Syring (Hg.), Um 1968. Konkrete Utopien in Kunst und Gesellschaft, Köln, DuMont 1990, 86-99.
* Die Titel der Werke im Original: ‚Splitting’ und
‚Window Blow-Out’. (A.d.Ü.)
[7] „So wie die Kunst nicht
außerhalb des Kunstbereichs existieren kann, können wir nicht außerhalb des
Kunstbereichs existieren, zumindest nicht als Künstler, Kritiker, Kuratoren,
etc... wenn es für uns kein Außen gibt, so nicht deswegen, weil die Institution
perfekt geschlossen ist, oder als Apparat in einer ‚vollständig verwalteten
Welt’ existiert, oder allumfassend in Größe und Reichweite gewachsen ist. Es
ist, weil die Institution innerhalb von uns selbst ist und wir nicht aus uns
heraus können.“ Andrea Fraser, „From the Critique of
Institutions to the Institution of Critique,“ in John C. Welchman (ed.),
Institutional Critique and After, Zürich, JRP/Ringier 2006.
[9] Marcel Broodthaers, „To be pensant... or not to be. To be blind.“
(1975), in October 42, „Marcel Broodthaers: Writings, Interviews, Photographs“
(Fall 1987).
[10] Vgl. Félix Guattari,
Psychanalyse et transversalité: Essais d’analyse institutionelle (1972), Paris,
La Découverte, 2003.
[12] Bruno Latour, Peter Waibel (Hg.), Making Things Public: Atmospheres of
Democracy, Karlsruhe,
ZKM, 2005.
[13] Die Videoinstallation
‚Schwarzmeerdateien’ von Ursula Biemann, die im Kontext des Projekts
‚Transkulturelle Geographien’ hergestellt worden ist, wurde mit den anderen
Arbeiten dieses Projekts in Kunst-Werke in Berlin vom 15. Dez. – 26. Feb. 2006
ausgestellt und danach in der Tapies Stiftung in Barcelona vom 9. März – 6. Mai
2006 und von Anselm Franke (Hg. u. Kurator) in B-Zone publiziert: Becoming
Europe and Beyond, cat., Berlin, KW/Actar, 2005.
[14] Die Videoinstallation Corridor
X von Angela Melitopoulos mit der Arbeit der anderen Mitglieder von Timescapes
wurde in B-Zone publiziert und ausgestellt: Becoming Europe and Beyond, op.
cit.
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Brian Holmes
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