01 2006 Kritik ohne Krise: Krise ohne KritikÜbersetzt von Hito Steyerl
Warum sprechen wir heute über Institutionskritik im
Kunstfeld? Die Antwort ist sehr einfach: weil wir noch immer glauben, dass
Kunst immanent mit der Macht der Kritik ausgestattet ist. Natürlich meinen wir
hier nicht einfach die Kunstkritik, sondern etwas mehr als das, nämlich die
Fähigkeit der Kunst, die Welt und das Leben jenseits ihres eigenen Feldes zu
kritisieren und auf diese Weise beide zu verändern. Dies schließt jedoch eine
gewisse Art der Selbstreflexion mit ein, oder präziser, die Praxis kritischer
Selbstreflexivität, was bedeutet, dass wir auch der Kunst erwarten – oder
zumindest zu erwarten gewohnt sind –, dass sie sich der Bedingungen ihrer
Möglichkeit kritisch bewusst ist, und das heißt üblicherweise: der Bedingungen
ihrer Produktion. Wir werden hier aber nicht der theoretischen Linie der modernen Kritik folgen. Wir werden uns stattdessen auf ihre praktische und politische Bedeutung konzentrieren, die einfach als Wille zur radikalen Veränderung beschrieben werden kann, kurz: als Forderung nach der Revolution, die die ultimative Form praktischer und politischer Kritik darstellt. Die Französische Revolution wurde nicht nur durch die bürgerliche Kritik des absoluten Staates vorbereitet. Sie war nichts als die Praxis dieser Kritik, ihr letztes Wort, das zur politischen Handlung wurde. Die Idee der Revolution als eines ultimativen Aktes der Kritik hat ihren radikalsten Ausdruck in marxistischen theoretischen und politischen Konzepten gefunden. Erinnern wir uns: Der junge Marx nannte seine eigene revolutionäre Philosophie explizit „die Kritik allem“. Er meinte das im radikalstmöglichen Sinne, als Kritik, die im Unterbau des sozialen Lebens selbst „arbeitet“, das bedeutet, im Bereich seiner materiellen Produktion und Reproduktion, etwas, das wir heute, vereinfacht gesagt, als den Bereich der Ökonomie bezeichnen. Auf diese Weise wurde Kritik zu einer der wesentlichen Eigenschaften der Moderne. Für fast zwei Jahrhunderte bedeutete modern zu sein einfach, kritisch zu sein: in der Philosophie ebenso wie in moralischen Fragen; in Politik und sozialem Leben ebenso wie in der Kunst. Aber es gibt auch ein anderes Konzept, das – als eine
Art Komplement – lange Zeit die Theorie und Praxis moderner Kritik begleitete:
den Begriff der Krise. Ich glaube, dass beide, Krise und Kritik, etwas
gemeinsam haben, dass es eine authentische Beziehung, oder besser, eine
Interaktion zwischen beiden gibt, die ebenfalls zur modernen Erfahrung gehört.
Deshalb impliziert ein Akt der Kritik fast notwendig das Bewusstsein der Krise,
und umgekehrt: Eine Diagnose der Krise impliziert die Notwendigkeit der Kritik. Während für die Denker der Aufklärung Revolution ein
Synonym für einen unausweichlichen historischen Fortschritt ist, der sich
notwendig als eine Art natürliches Phänomen ereignet, versteht Rousseau sie als
den ultimativen Ausdruck der Krise, der einen Zustand der Unsicherheit, der Auflösung,
des Chaos, neuer offener Widersprüche usw. mit sich bringt. Im Zusammenhang mit
der Krise – die sie vorbereitet und initiiert hat – verliert Kritik ihre
ursprüngliche Naivität und ihre angebliche Unschuld. jetzt an werden Kritik
und Krise zusammen das moderne Zeitalter der Bürgerkriege und Revolutionen
prägen, die statt des erwarteten historischen Fortschritts chaotische Auflösungen
und obskure regressive Prozesse erzeugen, die oft außerhalb rationaler
Kontrolle geraten. Die Interaktion zwischen Kritik und Krise ist eine der
wichtigsten Eigenschaften dessen, was später als Dialektik der Aufklärung
bezeichnet wurde. Dies gilt auch für die Entwicklung der modernen Kunst, die ebenfalls der dialektischen Beziehung Kritik und der Krise ihrer Formen folgte. Zum Beispiel verstehen wir Realismus als eine kritische Reaktion auf die Krise der Romantik oder die Idee der abstrakten Kunst als eine Kritik der gegenständlichen Kunst, die ihr Potenzial ausgeschöpft hatte und daher in die Krise geriet. Auch die Spannung zwischen der Kunst und der „prosaischen Wirklichkeit“ wurde durch die Dialektik Krise und Kritik interpretiert. Die moderne Kunst wurde ebenfalls oft – vor allem in der Romantik – als Kritik des gewöhnlichen Lebens, der Gewöhnlichkeit schlechthin verstanden, das heißt eines Lebens, das seine Authentizität oder seine Bedeutung verloren hatte, mithin in eine bestimmte Krise geraten war. Kehren wir jetzt zur Frage zurück, ob diese Dialektik Kritik und Krise heute noch nützlich ist: Vor ein paar Monaten hatte ich in Österreich die Gelegenheit, diese Frage direkt zu stellen. Ich moderierte eine Diskussion, deren Thema das Vermächtnis der künstlerischen Avantgarde im heutigen postkommunistischen Osteuropa war. Ich hoffe, dass alle zustimmen, wenn ich sage, dass die Avantgarde immer noch das radikalste Beispiel kritischer moderner Kunst ist, sowohl im Sinne einer Kritik der traditionellen Kunst ihrer Zeit als auch im Sinne einer Kritik der existierenden Realität, und zwar genau im Moment ihrer – weithin anerkannten und bestätigten – Krise. Nach fünf Stunden Diskussion war die Schlussfolgerung, dass es heute keinerlei Verwendung für die kritische Erfahrung der Avantgardekunst mehr gibt, zumindest nicht in Osteuropa. Die TeilnehmerInnen der Debatte waren meist jüngere KünstlerInnen aus Zentral- und Südosteuropa, aus Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Serbien, Rumänien, aber auch der Türkei. Nur die türkische Teilnehmerin nahm die Fragestellung überhaupt ernst und glaubte, dass die kritische Haltung der Avantgarde für uns heute noch Sinn macht. Der Teilnehmer aus der Tschechischen Republik
verweigerte hingegen am radikalsten und offensten, sich mit der Frage der
Avantgarde überhaupt zu befassen. Er argumentierte, dass die Frage der
Avantgarde ein Generationenproblem sei. Für ihn war es eine ältere Generation
KünstlerInnen und KunstgeschichtlerInnen, die immer noch eine
Herausforderung in der Avantgarde sahen und dieser Frage umgetrieben wurden. Es gab aber etwas anderes, was ich dort viel interessanter fand. Die TeilnehmerInnen waren alle Mitglieder des so genannten Transitprojekts. Das ist ein Projekt, das vor einigen Jahren einer österreichischen Bank gestartet wurde, mit dem Ziel, der Kunst in Osteuropa zu helfen. Die TeilnehmerInnen waren RepräsentantInnen dieses Projekts in ihren Ländern. Weil ich weiß, dass diese besondere Bank enormes Geld in Osteuropa verdient hatte, war ich neugierig, ob sie irgendeine Meinung zu dieser Tatsache hatten, das heißt zu den Umständen, unter denen sie für ihre künstlerische Arbeit bezahlt wurden oder zur Rolle Kunst bzw. der Förderung Kunst unter diesen Bedingungen. Ich war auch durch
einen Artikel motiviert, der in diesen Tagen in der Wiener Tageszeitung Der Standard veröffentlicht worden war.
Es war ein Artikel über die Profite österreichischer Banken und Versicherungen
in Osteuropa. Man konnte dort zum Beispiel lesen, dass die so genannten
Geschäftsaktivitäten der Generali Holding Wien (einer Versicherung) sich im
vergangenen Jahr verdreifacht hatten. Es scheint, als wäre das kritische Vermächtnis der Avantgarde im postkommunistischen Europa endlich tot. Darüber hinaus scheint es auch, dass es kein authentisches Interesse jüngerer KünstlerInnen an Institutionskritik, also an dem, was wir oben Selbstkritik genannt haben, gibt: an einem kritischen Bewusstsein der Bedingungen der Möglichkeit ihrer Kunst, das heißt ihrer Produktionsbedingungen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Unsere Wahrnehmung der Kritik der Avantgarde wird wesentlich durch die historische Erfahrung des Kommunismus geprägt. Das bedeutet, dass die Erfahrung der Avantgarde, ebenso wie die Erfahrung radikaler Kritik, uns heute nur aus unserer postkommunistischen (posttotalitären oder postideologischen) Perspektive erscheint, das heißt als ein Phänomen unserer Vergangenheit, als ein Phänomen, um Fukuyamas Begriff zu verwenden, einer niedrigeren Stufe der Entwicklung der Menschheit, als etwas, das – um die Worte des tschechischen Kollegen zu verwenden – einer Problemstellung der älteren Generation angehört, die früher oder später aussterben wird. Aber
lassen Sie mich an dieser Stelle eine „unmögliche“ Frage stellen: Ist der
Kommunismus wirklich tot? Bevor
wir aber die höchste theoretische Autorität des chinesischen Kommunismus über
die Wahrheit der Kritik und Selbstkritik befragen, erlauben Sie mir, Sie an
eine historische Tatsache zu erinnern: In der historischen Realität des 19. und
20. Jahrhunderts wurde die Idee der kommunistischen Revolution selbst zur
Institution, und zwar in der Form kommunistischer politischer Parteien. Als
Institution entwickelte die kommunistische Bewegung auch ihre eigene
Institution der Kritik, die Institution der so genannten Selbstkritik, die eine
extrem wichtige Rolle in ihrer Geschichte spielte: nämlich ein selbstbewusstes
Subjekt über revolutionäre Handlungen und später auch über eine sozialistische
Gemeinschaft zu informieren. Für Mao ist
Selbstkritik also „der einzige effiziente Weg um alle Arten politischen Staubs
und Bakterien da abzuhalten, die Gedanken unserer Genossen und den Körper
unserer Partei anzustecken“. Warum diese
Trivialisierung? Und, was noch wichtiger ist, wo ist die Krise, wohin ist sie
plötzlich verschwunden? Warum diese bestimmte Form kommunistischer Selbstkritik
– eine Selbstkritik, die nichts mit einer Krise zu tun hat? Das Resultat ist, dass KommunistInnen sich nicht als Teil der Krise des Kapitalismus verstehen konnten, und daher haben sie diesen, anstatt seine Krise in ihrer eigenen Kritik aufzulösen, letztendlich stärker und effizienter, und das heißt auch: die Krise nachhaltiger gemacht. Das Problem war, dass Kommunismus und Kapitalismus oder, wenn Sie so wollen, der Kapitalismus als Krise und die kommunistische Kritik daran niemals den Punkt ihres radikalen gegenseitigen Ausschlusses erreicht haben, sondern sich im Gegenteil im Moment ihrer Krisen gegenseitig unterstützt haben. Warum sollte man
es vergessen? Es war das amerikanische Kapital und kein anderes, das dem
bolschewistischen Russland half, sich den Verwüstungen des Bürgerkrieges zu
erholen? Warum sollte man die Rolle der Kunst in dieser Geschichte vergessen?
Die Sowjets tauschten, wie weithin bekannt ist, einige ihrer kostbarsten und
auch teuersten Kunstwerke, meist französische Gemälde des 19. Jahrhunderts, gegen
neue industrielle Technologien aus den Vereinigten Staaten. In unserem
liberalen Jargon würde man heute einer perfekten Win-win-Situation
sprechen. Die eine Seite konnte das loswerden, was sie zu dieser Zeit als
bedeutungslos und historisch obsolet betrachtete, das heißt: Sie konnte die
bürgerliche Kunst loswerden, während die andere Seite ihre Märkte ausdehnen,
die Beschäftigung vorantreiben und so die soziale Situation stabilisieren, ihre
Arbeiterklasse befrieden konnte, das heißt also – die Krise verhindern konnte. Dies geschieht nicht etwa, wie so viele glauben, weil die zeitgenössischen chinesischen Kommunisten die grundlegenden Prinzipien der kommunistischen Idee verraten haben, das heißt, weil sie aufgehört haben, den Kapitalismus zu kritisieren, und damit begonnen haben, ihn zu verbessern. Sie haben Mao nicht verraten. Sie halten sich im Gegenteil treu an sein wahres Vermächtnis. Lassen Sie mich noch einmal den Vorsitzenden zitieren, wenn er, über die Notwendigkeit der Selbstkritik sprechend, die Erfordernis persönlicher Aufopferung befürwortet: „Als chinesische Kommunisten, die niemals vor der Idee irgendwelcher persönlicher Opfer zurückschrecken und zu jeder Zeit bereit sind, unser Leben für die Sache zu geben, können wir uns da verweigern, wenn es darum geht, eine Idee, Perspektive, Meinung oder Methode aufzugeben, die für die Bedürfnisse des Volkes nicht geeignet ist? Können wir es erlauben, dass politischer Staub und Bakterien unsere sauberen Gesichter verdrecken oder sich in unsere gesunden Organismen hineinfressen? Kann es da irgendein persönliches Interesse geben, das wir nicht opfern würden, oder einen Fehler, den wir nicht ausräumen würden?“ Nur zur
Erinnerung: Die berühmten stalinistischen Schauprozesse wären ohne die
Institution der Selbstkritik niemals möglich gewesen. Wie wir heute sehr gut
wissen, wurden sie am Anfang der 1930er eingerichtet, genau in dem Moment, als
die Kollektivierung katastrophale Ergebnisse zu zeitigen begann, das heißt, als
die sowjetische Gesellschaft in eine tiefe Krise geriet. |
Boris BudenHito Steyerl (translation)languagesEnglish Deutsch Español Română Türkçetransversaldo you remember institutional critique? |