Übersetzt von Hito Steyerl
Warum sprechen wir heute über Institutionskritik im
Kunstfeld? Die Antwort ist sehr einfach: weil wir noch immer glauben, dass
Kunst immanent mit der Macht der Kritik ausgestattet ist. Natürlich meinen wir
hier nicht einfach die Kunstkritik, sondern etwas mehr als das, nämlich die
Fähigkeit der Kunst, die Welt und das Leben jenseits ihres eigenen Feldes zu
kritisieren und auf diese Weise beide zu verändern. Dies schließt jedoch eine
gewisse Art der Selbstreflexion mit ein, oder präziser, die Praxis kritischer
Selbstreflexivität, was bedeutet, dass wir auch der Kunst erwarten – oder
zumindest zu erwarten gewohnt sind –, dass sie sich der Bedingungen ihrer
Möglichkeit kritisch bewusst ist, und das heißt üblicherweise: der Bedingungen
ihrer Produktion.
Diese zwei Vorstellungen – sich der Bedingungen ihrer Möglichkeit oder auch
ihrer Produktionsbedingungen bewusst zu sein – verweisen auf zwei wichtige
Bereiche der modernen Kritik: den theoretischen und den praktisch-politischen.
Wir können aus dieser Perspektive sagen, dass moderne Reflexion entweder
kritisch ist oder aber dass sie eben nicht modern ist.
Wir werden hier aber nicht der theoretischen Linie der modernen Kritik folgen. Wir werden uns stattdessen auf ihre praktische und politische Bedeutung konzentrieren, die einfach als Wille zur radikalen Veränderung beschrieben werden kann, kurz: als Forderung nach der Revolution, die die ultimative Form praktischer und politischer Kritik darstellt. Die Französische Revolution wurde nicht nur durch die bürgerliche Kritik des absoluten Staates vorbereitet. Sie war nichts als die Praxis dieser Kritik, ihr letztes Wort, das zur politischen Handlung wurde. Die Idee der Revolution als eines ultimativen Aktes der Kritik hat ihren radikalsten Ausdruck in marxistischen theoretischen und politischen Konzepten gefunden. Erinnern wir uns: Der junge Marx nannte seine eigene revolutionäre Philosophie explizit „die Kritik allem“. Er meinte das im radikalstmöglichen Sinne, als Kritik, die im Unterbau des sozialen Lebens selbst „arbeitet“, das bedeutet, im Bereich seiner materiellen Produktion und Reproduktion, etwas, das wir heute, vereinfacht gesagt, als den Bereich der Ökonomie bezeichnen.
Auf diese Weise wurde Kritik zu einer der wesentlichen Eigenschaften der Moderne. Für fast zwei Jahrhunderte bedeutete modern zu sein einfach, kritisch zu sein: in der Philosophie ebenso wie in moralischen Fragen; in Politik und sozialem Leben ebenso wie in der Kunst.
Aber es gibt auch ein anderes Konzept, das – als eine
Art Komplement – lange Zeit die Theorie und Praxis moderner Kritik begleitete:
den Begriff der Krise. Ich glaube, dass beide, Krise und Kritik, etwas
gemeinsam haben, dass es eine authentische Beziehung, oder besser, eine
Interaktion zwischen beiden gibt, die ebenfalls zur modernen Erfahrung gehört.
Deshalb impliziert ein Akt der Kritik fast notwendig das Bewusstsein der Krise,
und umgekehrt: Eine Diagnose der Krise impliziert die Notwendigkeit der Kritik.
Kritik und Krise betraten die historische Bühne übrigens nicht zur selben Zeit.
Die Kritik ist ein Kind der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Sie entwickelte
sich aus der Trennung zwischen Politik und Moral, einer Trennung, welche durch
Kritik vertieft und durch die Moderne hinweg aufrechterhalten wurde. Nur durch
den Prozess der Kritik – der Kritik aller Formen traditionellen Wissens und
ästhetischer Werte, vor allem der Religion, der Kritik aller existierenden
juristischen und politischen Realitäten und schließlich der Kritik des Geistes
selbst – konnte die stärker werdende bürgerliche Klasse sich (ihre eigenen
Interessen und Werte) zur höchsten Instanz des Urteils erheben und so ihr
Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein für künftige politische Kämpfe stärken.
In diesem Kontext sollte man die Rolle der Kunst und der Literaturkritik
speziell im Bereich der Entwicklung der modernen Geschichtsphilosophie nicht
unterbewerten. Es waren insbesondere Kunst und Literaturkritik, die in der
Intelligentsia das Bewusstsein eines Widerspruchs zwischen dem „Alten“ und
„Modernen“ erzeugten und auf diese Weise eine neue Auffassung Zeit
ausbildeten, mit deren Hilfe die Zukunft der Vergangenheit unterschieden
werden konnte. Aber am Ende dieser Periode erwacht auch das Bewusstsein einer
kommenden Krise:
„Nous approchons de l’état de crise et du siècle des révolutions“, schreibt
Rousseau („wir nähern uns
dem Zustand der Krise und dem Jahrhundert der Revolutionen“).
Während für die Denker der Aufklärung Revolution ein
Synonym für einen unausweichlichen historischen Fortschritt ist, der sich
notwendig als eine Art natürliches Phänomen ereignet, versteht Rousseau sie als
den ultimativen Ausdruck der Krise, der einen Zustand der Unsicherheit, der Auflösung,
des Chaos, neuer offener Widersprüche usw. mit sich bringt. Im Zusammenhang mit
der Krise – die sie vorbereitet und initiiert hat – verliert Kritik ihre
ursprüngliche Naivität und ihre angebliche Unschuld. jetzt an werden Kritik
und Krise zusammen das moderne Zeitalter der Bürgerkriege und Revolutionen
prägen, die statt des erwarteten historischen Fortschritts chaotische Auflösungen
und obskure regressive Prozesse erzeugen, die oft außerhalb rationaler
Kontrolle geraten. Die Interaktion zwischen Kritik und Krise ist eine der
wichtigsten Eigenschaften dessen, was später als Dialektik der Aufklärung
bezeichnet wurde.
In der Zwischenzeit wurde die Interaktion zwischen beiden Begriffen eine Art terminus technicus eines modernistischen
Fortschrittsgedankens, der eine Differenz – und gleichzeitig eine Beziehung –
zwischen dem „Alten“ und dem „Neuen“ einführte. Zu sagen, dass etwas in die
Krise geraten war, bedeutete vor allem, zu sagen, dass es alt geworden war,
dass es sein Existenzrecht verloren hatte und daher mit etwas Neuem ersetzt
werden sollte. Kritik ist nichts als der Akt dieses Urteils, das dem Alten
helfen sollte, rasch zu sterben, und das dem Neuen zu einer leichten Geburt
verhelfen sollte.
Dies gilt auch für die Entwicklung der modernen Kunst, die ebenfalls der dialektischen Beziehung Kritik und der Krise ihrer Formen folgte. Zum Beispiel verstehen wir Realismus als eine kritische Reaktion auf die Krise der Romantik oder die Idee der abstrakten Kunst als eine Kritik der gegenständlichen Kunst, die ihr Potenzial ausgeschöpft hatte und daher in die Krise geriet. Auch die Spannung zwischen der Kunst und der „prosaischen Wirklichkeit“ wurde durch die Dialektik Krise und Kritik interpretiert. Die moderne Kunst wurde ebenfalls oft – vor allem in der Romantik – als Kritik des gewöhnlichen Lebens, der Gewöhnlichkeit schlechthin verstanden, das heißt eines Lebens, das seine Authentizität oder seine Bedeutung verloren hatte, mithin in eine bestimmte Krise geraten war.
Kehren wir jetzt zur Frage zurück, ob diese Dialektik Kritik und Krise heute noch nützlich ist:
Vor ein paar Monaten hatte ich in Österreich die Gelegenheit, diese Frage direkt zu stellen. Ich moderierte eine Diskussion, deren Thema das Vermächtnis der künstlerischen Avantgarde im heutigen postkommunistischen Osteuropa war.
Ich hoffe, dass alle zustimmen, wenn ich sage, dass die Avantgarde immer noch das radikalste Beispiel kritischer moderner Kunst ist, sowohl im Sinne einer Kritik der traditionellen Kunst ihrer Zeit als auch im Sinne einer Kritik der existierenden Realität, und zwar genau im Moment ihrer – weithin anerkannten und bestätigten – Krise. Nach fünf Stunden Diskussion war die Schlussfolgerung, dass es heute keinerlei Verwendung für die kritische Erfahrung der Avantgardekunst mehr gibt, zumindest nicht in Osteuropa.
Die TeilnehmerInnen der Debatte waren meist jüngere KünstlerInnen aus Zentral- und Südosteuropa, aus Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Serbien, Rumänien, aber auch der Türkei. Nur die türkische Teilnehmerin nahm die Fragestellung überhaupt ernst und glaubte, dass die kritische Haltung der Avantgarde für uns heute noch Sinn macht.
Der Teilnehmer aus der Tschechischen Republik
verweigerte hingegen am radikalsten und offensten, sich mit der Frage der
Avantgarde überhaupt zu befassen. Er argumentierte, dass die Frage der
Avantgarde ein Generationenproblem sei. Für ihn war es eine ältere Generation
KünstlerInnen und KunstgeschichtlerInnen, die immer noch eine
Herausforderung in der Avantgarde sahen und dieser Frage umgetrieben wurden.
Die jüngere Generation, so glaubte er, sei schon jenseits des Problems einer
politischen Bedeutung Kunst oder der Frage nach der Beziehung zwischen
Politik und Ästhetik. Die ältere Generation, so sein Beispiel, diskutiere immer
noch vehement darüber, ob die politische Bedeutung Leni Riefenstahls Arbeit
wichtig sei oder nicht. Für die jüngere Generation spiele dies im Gegenteil
keinerlei Rolle mehr. Sie habe einen sozusagen direkten Einblick in
Riefenstahls Kunst, ohne jegliche politische Konnotationen. Sie sehe diese, wie
sie wirklich ist – als reine Kunst in ihrem reinen ästhetischen Wert und ihrer
reinen Bedeutung.
Tatsächlich war ich nicht im Geringsten an diesem Thema interessiert, weil ich
diese Leute und ihre Vorlieben kenne, und deshalb nicht wirklich ihnen
erwartete, an der Avantgarde interessiert zu sein.
Es gab aber etwas anderes, was ich dort viel interessanter fand. Die TeilnehmerInnen waren alle Mitglieder des so genannten Transitprojekts. Das ist ein Projekt, das vor einigen Jahren einer österreichischen Bank gestartet wurde, mit dem Ziel, der Kunst in Osteuropa zu helfen. Die TeilnehmerInnen waren RepräsentantInnen dieses Projekts in ihren Ländern. Weil ich weiß, dass diese besondere Bank enormes Geld in Osteuropa verdient hatte, war ich neugierig, ob sie irgendeine Meinung zu dieser Tatsache hatten, das heißt zu den Umständen, unter denen sie für ihre künstlerische Arbeit bezahlt wurden oder zur Rolle Kunst bzw. der Förderung Kunst unter diesen Bedingungen.
Ich war auch durch
einen Artikel motiviert, der in diesen Tagen in der Wiener Tageszeitung Der Standard veröffentlicht worden war.
Es war ein Artikel über die Profite österreichischer Banken und Versicherungen
in Osteuropa. Man konnte dort zum Beispiel lesen, dass die so genannten
Geschäftsaktivitäten der Generali Holding Wien (einer Versicherung) sich im
vergangenen Jahr verdreifacht hatten.
Der jährliche Nettogewinn hatte sich im selben Jahr verdoppelt. Man kann sich
nur fragen, wie so etwas möglich ist. Die Antwort wurde im selben Artikel durch
den Untertitel „Die Wachstumsmaschine Osteuropa“ gegeben. Die Osterweiterung
dieser Aktiengesellschaft – und österreichischer Banken – macht es möglich,
dass solche Profite erwirtschaftet werden. Ich wollte, dass die TeilnehmerInnen
diese Frage irgendwie angehen; oder, offen gestanden, ich wollte eine Art
Kritik provozieren. Bedauerlicherweise funktionierte das nicht. Niemand fand
die ökonomischen und materiellen Bedingungen seiner oder ihrer Arbeit der Rede
wert.
Es scheint, als wäre das kritische Vermächtnis der Avantgarde im postkommunistischen Europa endlich tot. Darüber hinaus scheint es auch, dass es kein authentisches Interesse jüngerer KünstlerInnen an Institutionskritik, also an dem, was wir oben Selbstkritik genannt haben, gibt: an einem kritischen Bewusstsein der Bedingungen der Möglichkeit ihrer Kunst, das heißt ihrer Produktionsbedingungen.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Unsere Wahrnehmung der Kritik der Avantgarde wird wesentlich durch die historische Erfahrung des Kommunismus geprägt.
Das bedeutet, dass die Erfahrung der Avantgarde, ebenso wie die Erfahrung radikaler Kritik, uns heute nur aus unserer postkommunistischen (posttotalitären oder postideologischen) Perspektive erscheint, das heißt als ein Phänomen unserer Vergangenheit, als ein Phänomen, um Fukuyamas Begriff zu verwenden, einer niedrigeren Stufe der Entwicklung der Menschheit, als etwas, das – um die Worte des tschechischen Kollegen zu verwenden – einer Problemstellung der älteren Generation angehört, die früher oder später aussterben wird.
Aber
lassen Sie mich an dieser Stelle eine „unmögliche“ Frage stellen: Ist der
Kommunismus wirklich tot?
Soweit ich weiß, ist er nicht nur am Leben, sondern beweist auch in einigen
Bereichen seine Überlegenheit gegenüber dem Kapitalismus. Ja, ich meine
wirklich das heutige China. (Bitte erzählen Sie mir nicht, dass das kein
richtiger Kommunismus ist. Es gab nie einen richtigen Kommunismus. Ich erinnere
mich sehr gut daran, dass aus der Perspektive des ehemaligen jugoslawischen
Kommunismus – der seinerseits immer wieder als nicht authentischer und unechter
Kommunismus abgetan wurde – der sowjetische und gesamte Ostblockkommunismus als
eine Art Staatskapitalismus definiert wurde.)
Warum lernen wir also nichts über die radikale Kritik und Selbstkritik den
chinesischen Kommunisten, die offensichtlich erfolgreicher als ihre westliche
Kollegen gewesen zu sein scheinen?
Bevor
wir aber die höchste theoretische Autorität des chinesischen Kommunismus über
die Wahrheit der Kritik und Selbstkritik befragen, erlauben Sie mir, Sie an
eine historische Tatsache zu erinnern: In der historischen Realität des 19. und
20. Jahrhunderts wurde die Idee der kommunistischen Revolution selbst zur
Institution, und zwar in der Form kommunistischer politischer Parteien. Als
Institution entwickelte die kommunistische Bewegung auch ihre eigene
Institution der Kritik, die Institution der so genannten Selbstkritik, die eine
extrem wichtige Rolle in ihrer Geschichte spielte: nämlich ein selbstbewusstes
Subjekt über revolutionäre Handlungen und später auch über eine sozialistische
Gemeinschaft zu informieren.
Für den Vorsitzenden Mao war die bewusste
Praxis der Selbstkritik eines der wichtigsten Kennzeichen, das eine kommunistische
Partei allen andern Parteien unterscheidet. Lassen Sie mich ihn zitieren:
„Wie wir sagen, wird sich Staub in einem Zimmer ansammeln, wenn es nicht
regelmäßig geputzt wird, unsere Gesichter werden schmutzig werden, wenn sie
nicht regelmäßig gewaschen werden. Die Gedanken unserer Genossen und die Arbeit
unserer Partei wird ebenfalls Staub ansammeln und muss auch gefegt und
gewaschen werden …“
Für Mao ist
Selbstkritik also „der einzige effiziente Weg um alle Arten politischen Staubs
und Bakterien da abzuhalten, die Gedanken unserer Genossen und den Körper
unserer Partei anzustecken“.
Das klingt für uns heute sehr lustig, wie ein kindisches ideologisches Märchen,
aber lassen Sie mich auf einen entscheidenden Widerspruch in Maos Konzept der
Selbstkritik hinweisen: Es hat weder mit der Krise des Kapitalismus noch mit
sonst einer Krise zu tun. Obwohl Mao die kommunistische Selbstkritik als
effizienteste Waffe des Marxismus-Leninismus beschreibt, rechtfertigt er sie
nicht mit den ideologischen Grundsätzen des Marxismus-Leninismus. Im Gegenteil
scheint seine Definition absolut ideologiefrei zu sein und einfach der Logik
des trivialen, gesunden Menschenverstands zu folgen: Ein sauberes Gesicht ist
besser als ein dreckiges, ein sauberes Zimmer besser als eines voller Staub,
Bakterien sind schlecht für die Gesundheit usw.
Warum diese
Trivialisierung? Und, was noch wichtiger ist, wo ist die Krise, wohin ist sie
plötzlich verschwunden? Warum diese bestimmte Form kommunistischer Selbstkritik
– eine Selbstkritik, die nichts mit einer Krise zu tun hat?
Unter dem Deckmantel der kommunistischen politischen Bewegung sind die Krise
des Kapitalismus und ihre Kritik zu einer einzigen Institution verschmolzen, in
der es keine Möglichkeit mehr gibt, zwischen beiden zu differenzieren. In
anderen Worten, sie sind einander genau durch ihre Verschmelzung äußerlich
geworden. Für die kommunistische Bewegung war die Krise des Kapitalismus
plötzlich irgendwo da draußen, außerhalb der eigenen Institution. Aber auch für
den Kapitalismus konnte die Kritik seiner Krise jetzt so wahrgenommen werden,
als käme sie außen.
Das Resultat ist, dass KommunistInnen sich nicht als Teil der Krise des Kapitalismus verstehen konnten, und daher haben sie diesen, anstatt seine Krise in ihrer eigenen Kritik aufzulösen, letztendlich stärker und effizienter, und das heißt auch: die Krise nachhaltiger gemacht.
Das Problem war, dass Kommunismus und Kapitalismus oder, wenn Sie so wollen, der Kapitalismus als Krise und die kommunistische Kritik daran niemals den Punkt ihres radikalen gegenseitigen Ausschlusses erreicht haben, sondern sich im Gegenteil im Moment ihrer Krisen gegenseitig unterstützt haben.
Warum sollte man
es vergessen? Es war das amerikanische Kapital und kein anderes, das dem
bolschewistischen Russland half, sich den Verwüstungen des Bürgerkrieges zu
erholen? Warum sollte man die Rolle der Kunst in dieser Geschichte vergessen?
Die Sowjets tauschten, wie weithin bekannt ist, einige ihrer kostbarsten und
auch teuersten Kunstwerke, meist französische Gemälde des 19. Jahrhunderts, gegen
neue industrielle Technologien aus den Vereinigten Staaten. In unserem
liberalen Jargon würde man heute einer perfekten Win-win-Situation
sprechen. Die eine Seite konnte das loswerden, was sie zu dieser Zeit als
bedeutungslos und historisch obsolet betrachtete, das heißt: Sie konnte die
bürgerliche Kunst loswerden, während die andere Seite ihre Märkte ausdehnen,
die Beschäftigung vorantreiben und so die soziale Situation stabilisieren, ihre
Arbeiterklasse befrieden konnte, das heißt also – die Krise verhindern konnte.
Dies war nicht deswegen möglich, weil, wie einige heute glauben, die
Bolschewisten Primitive waren, die den realen Wert der ihnen besessenen
Kunstgegenstände nicht zu erkennen vermochten. Weit gefehlt. Sie wussten sehr
gut, und dies nach rein kapitalistischer Logik, was der Marktwert dieser
Kunstwerke war. Sie behandelten sie ausschließlich als Waren. Aber dies wurde
erst möglich, nachdem diese Kunstwerke ästhetisch entwertet worden waren, nachdem
sie ihren künstlerischen Wert als Konsequenz dessen, was wir heute als Akt der
Kunstkritik verstehen, verloren hatten. Es war die Avantgardekunst, die die
Krise der traditionellen Kunst ausrief und – innerhalb dessen, was wir heute
als reine Kunstgeschichte verstehen – all diese französischen Gemälde, das
bedeutet, die traditionelle Kunst an sich, radikal kritisierte.
Es war die Avantgardekunst selbst, die Fabriken und arbeitende Massen brauchte,
um ihre künstlerischen Prinzipien zu artikulieren und um ihre eigenen
künstlerischen Werte zu schaffen – und nicht Museen und Depots, in denen ihre
Werke gesammelt werden konnten, um sie einem Publikum zu präsentieren, das ihr
nichts bedeutete und vor dem sie sich eigentlich ekelte.
Und wer konnte diese Fabriken und die Arbeiterklasse, die sie brauchte,
herbeischaffen? – Die amerikanische industrielle Technologie, das heißt: der
Kapitalismus.
Dies ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie Kritik und Krise sowohl
Kapitalismus als auch Kunst erfolgreich zusammenwirken können um – die
Normalität zu produzieren! Natürlich innerhalb eines insgesamt kapitalistischen
Umfelds.
Ein anderes Beispiel, wie Kapitalismus und Kommunismus harmonisch zusammenwirken
können, ist natürlich das gegenwärtige China. Es ist – um die Realität in unser
Verständnis Krise und Kritik zu übersetzen – genau die Herrschaft der
chinesischen Kommunistischen Partei, die der kapitalistischen Krise heute zu
überleben hilft, also ihren Fortbestand sichert. Nicht nur dadurch, dass sie den
größten Markt dieser Welt für das globale Kapital öffnet, sondern auch dadurch,
dass sie dieses mit billigen und hochdisziplinierten Arbeitskräften versorgt.
Dies geschieht nicht etwa, wie so viele glauben, weil die zeitgenössischen chinesischen Kommunisten die grundlegenden Prinzipien der kommunistischen Idee verraten haben, das heißt, weil sie aufgehört haben, den Kapitalismus zu kritisieren, und damit begonnen haben, ihn zu verbessern. Sie haben Mao nicht verraten. Sie halten sich im Gegenteil treu an sein wahres Vermächtnis.
Lassen Sie mich noch einmal den Vorsitzenden zitieren, wenn er, über die Notwendigkeit der Selbstkritik sprechend, die Erfordernis persönlicher Aufopferung befürwortet: „Als chinesische Kommunisten, die niemals vor der Idee irgendwelcher persönlicher Opfer zurückschrecken und zu jeder Zeit bereit sind, unser Leben für die Sache zu geben, können wir uns da verweigern, wenn es darum geht, eine Idee, Perspektive, Meinung oder Methode aufzugeben, die für die Bedürfnisse des Volkes nicht geeignet ist? Können wir es erlauben, dass politischer Staub und Bakterien unsere sauberen Gesichter verdrecken oder sich in unsere gesunden Organismen hineinfressen? Kann es da irgendein persönliches Interesse geben, das wir nicht opfern würden, oder einen Fehler, den wir nicht ausräumen würden?“
Nur zur
Erinnerung: Die berühmten stalinistischen Schauprozesse wären ohne die
Institution der Selbstkritik niemals möglich gewesen. Wie wir heute sehr gut
wissen, wurden sie am Anfang der 1930er eingerichtet, genau in dem Moment, als
die Kollektivierung katastrophale Ergebnisse zu zeitigen begann, das heißt, als
die sowjetische Gesellschaft in eine tiefe Krise geriet.
Es war Selbstkritik, die dabei half, diese Krise nach außen zu projizieren und
als Werk imperialistischer Spione und Agenten darzustellen. Es war daher völlig
verständlich, dass die Institution all diesen „Keimen und Bakterien“ gereinigt
werden musste, die sich in den gesunden Organismus der sowjetischen
Gesellschaft gefressen hatten.
Kritik – unter dem Deckmantel kommunistischer Selbstkritik – wurde verwendet
oder auch, wenn Sie wollen, missbraucht, um die reale Krise sowie ihre
Widersprüche zu verschleiern und nicht in sie zu intervenieren (was eine
klassische marxistische Herangehensweise gewesen wäre.) Im Gegenteil wurde sie
versteckt und dadurch permanent gemacht, das bedeutet, die Krise wurde in eine
Art Normalität transformiert oder .
Dies ist typisch für die heutige Situation: Wir sind weder fähig, unsere Zeit
als Krise zu erfahren, noch versuchen wir, durch einen Akt der Kritik Subjekte
zu werden.
In der Periode des klassischen Modernismus wurde die Krise immer als
tatsächliche Möglichkeit eines Bruches erfahren und die Kritik als dieser Bruch
selbst. Heute gibt es offensichtlich keine solche Erfahrung, es gibt keine
Erfahrung einer Interaktion zwischen Krise und Kritik.
Man kann nicht einfach die Warnung Giorgio Agamben ignorieren – dass
nämlich eine der wichtigsten Erfahrungen unserer Zeit darin besteht, dass wir
ihr keine Erfahrungen mehr machen können. Das Resultat ist eine permanente
Kritik, die blind ist für die Krise, und eine permanente Krise, die taub ist
für die Kritik, kurz gesagt – eine perfekte Harmonie!
Literatur:
Mao: siehe Internet.
Reinhart
Koselleck, Kritik und Krise,
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979.