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06 2006

Louise Lawlers Rude Museum

Übersetzt von Tom Waibel

Rosalyn Deutsche

An der Schwelle zum Zweiten Weltkrieg riet Virginia Woolf den Frauen, sich an den Spott zu erinnern, zu dessen Objekt sie lange Zeit über geworden sind, um von ihm zu lernen und ihn einzusetzen.[1] Drei Guineen, Woolfs klassischer Essay über das ethisch-politische Denken, zählt den Spott zu den großen „unbezahlten Lehrmeistern“ der Frauen, der sie über menschliches Verhalten und Motive unterrichtet, das heißt über Psychologie, einen Bereich, den Woolf im Gegensatz zu vielen linken KritikerInnen heute nicht vom Politischen trennte.[2] Bevor sie diesen Essay schrieb, war Woolf von drei verschiedenen unterschiedliche Anliegen unterstützende Organisationen um Beiträge angefragt worden: Frauenfortbildung, beruflicher Aufstieg von Frauen und Verhinderung von Krieg. Zumindest lauten so die Angaben im Buch. Woolf antwortete durch die Verbindung der drei Anliegen und stellte klar, dass für sie das Ziel des Feminismus nicht nur darin bestand, die Gleichberechtigung der Frauen zu erlangen, sondern auch eine bessere und weniger kriegsartige Gesellschaft zu erreichen. Da die Berufe in ihrer derzeit praktizierten Form Eigenschaften bestärken, die zum Krieg führen – Pompösität, Eitelkeit, Egoismus, Patriotismus, Habgier und Streitlust – begründete sie dies damit, dass Frauen nicht einfach nur gebildete Spezialistinnen werden, sondern das auf eine andere Art werden sollten: „Wie können wir freie Berufe ergreifen und trotzdem zivilisierte Menschen bleiben, das heißt Menschen, die einen Krieg verhindern wollen?“[3] Frauen können dazu beitragen, schlug sie vor, indem sie es ablehnen, anerkannte Berufe zu würdigen und es stattdessen für ihre Aufgabe ansehen, die Meinung zu vertreten, dass berufliche Gebräuche und Rituale verachtenswert sind. Und gibt es einen besseren Weg, als diese Aufgabe mit Humor zu erfüllen, der, wie Mignon Nixon in Anlehnung an Freud feststellt, „psychische Energien löst, angenehme Effekte hat und zur Missachtung der Pietät beiträgt.“[4] Woolfs Humor war von der Art, die Freud „tendenziös“ nannte. Er diente dem Zweck, Autoritäten zu kritisieren, und schlug - feindseligen Witzen gleich – Kapital aus „Lächerlichem am Feind“.[5] Im folgenden ein Ausschnitt aus ihren Beobachtungen über die Berufsbekleidung:

 „Wie vielfältig, wie prächtig, wie außerordentlich reich verziert sie sind – die Kleider, die der gebildete Mann in seinem öffentlichen Amte trägt! Mal tragen Sie Violett; ein juwelenbesetztes Kruzifix baumelt auf Ihrer Brust; mal sind Ihre Schulterstücke mit Litze verziert, mal mit Hermelin bepelzt, mal umschlungen von mehreren mit Edelsteinen besetzten Ketten. Mal tragen Sie Perücken auf dem Kopf; abgestufte Lockenreihen reichen Ihnen bis zum Nacken. Mal sind Ihre Hüte wie Boote geformt oder dreispitzig; mal ragen sie auf als schwarze Fellkegel.“[6]

Woolf verspottete die Berufsverkleidungen der Männer aufgrund der hierarchischen Rangmerkmale und des Machtwillens, den sie bezeichnen; „[...] jeder Knopf, jede Rosette und jeder Streifen scheinen auch eine symbolische Bedeutung zu haben. Einige dürfen nur flache Knöpfe tragen, andere Rosetten; einige haben einen Streifen, andere drei, vier, fünf oder sechs. Und alle Ringel und Streifen sind genau im richtigen Abstand voneinander angenäht; bei einem Mann ist das vielleicht ein Zoll, bei einem anderen eineinviertel Zoll.“[7] Unterscheidungsmerkmale in der Kleidung, das Voranstellen von Titel vor die Namen oder das Anfügen von Buchstaben hinter sie, wurden entworfen, um Überlegenheit zu zeigen und Konkurrenz und Neid zu erregen. Daher trägt das berufliche System der Mode dazu bei, „die Bereitschaft zum Krieg zu verstärken.“[8]

Heutzutage halten manche KritikerInnen Woolfs Hoffnung, dass Frauen aufgrund ihres vorherigen Ausschlusses Berufe verändern könnten, für überholt und für bedeutungslos in einer historischen Phase, in der Frauen in einem bemerkenswerten Ausmaß ins öffentliche Leben getreten sind. Obwohl es in Woolfs Appell bereits latent ist, braucht es, denke ich, die sorgfältige und zeitgemäße Anerkennung dessen, dass vermutlich genau das Gegenteil davon passiert: Frauen können sich mit der maskulinen Position identifizieren. Es wäre, wie es Homi Bhabha ausdrückt, „für eine Frau vollständig möglich, die Rolle eines repräsentativen Mannes einzunehmen“, und Bhabha erklärt, dass er den Begriff „Männlichkeit“ nicht dazu verwendet, um die Macht der tatsächlich männlichen Personen zu bezeichnen, sondern um eine Machtposition zu benennen, die durch die Forderung autorisiert wurde, dass sich die soziale Gesamtheit repräsentieren lässt.[9] In diesem Sinn verstanden ist Männlichkeit ein Verhältnis, das nur durch die Kriegserklärung gegenüber der Andersheit und durch die Unterwerfung des nicht vollständig Erkennbaren aufrechterhalten werden kann. Woolf glaubte, dass kulturelle Institutionen triumphalistische Verhältnisse kultivieren. Ebenso wie ihr antifaschistischer Zeitgenosse Walter Benjamin ist sie der Barbarei gegenüber aufmerksam, die jedem „Dokument der Kultur“[10] innewohnt und sie nähert sich solchen Dokumenten behutsam. Keine anerkannte Institution war vor ihrem Spott sicher. Sie zählte sogar die Königlich Britische Akademie der Künste, jene Institution, die die Standards des beruflichen Wettbewerbs in der Kunst sicherstellte, zu den großen „Schlachtfeldern“, und ihre Mitglieder erscheinen, wie sie sagt, „genauso blutrünstig wie der eigentliche militärische Beruf.“[11]

 

Johann Zoffany, Life Class at the Royal Academy, 1772


Woolf bezog sich auf das kriegerische Verhalten unter den männlichen Akademiemitgliedern, doch die Akademie wandte noch eine andere Art von Gewalt an, wie in Johann Zoffanys Porträt der Akademiemitglieder Life Class at the Royal Academy (1772) festgestellt werden kann, einem Gemälde, das zur Ikone der feministischen Kunsttheorie wurde, seit es Linda Nochlin zur Illustration ihres richtungsweisenden Essays von 1971 „Warum hat es keine große weibliche Künstlerinnen gegeben?“[12] benutzte. Nochlin behandelt Zoffanys Genrebild als Dokument des Sexismus, als ein Werk, das einen Aspekt der historischen Diskriminierung von Frauen in der Kunst zeigt. Zoffany stellte die Akademiemitglieder um ein nacktes männliches Modell versammelt dar, zu einer Zeit, als Frauen vom Zugang zum männlichen Akt und damit von der Historienmalerei, dem Prestige trächtigsten Genre in der Hierarchie der Akademie ausgeschlossen waren. Er löste das Problem, die beiden weiblichen Gründungsmitglieder der Akademie, Angelika Kaufmann und Mary Moser, zu berücksichtigen, indem er sie als an die Wand gehängte, gemalte Portraits darstellte. Unmittelbar vor dem nackten Modell, von einem Luster beleuchtet, steht Sir Joshua Reynolds, Präsident der Akademie und Autor von Discourses on Art, Vorlesungen, die er zwischen 1769 und 1790 an die „Gentlemen“ der Königlichen Akademie richtete. Doch der Kritik Naomi Schors folgend bezeichnet „Reynolds“ nicht nur eine historische Person; es ist auch „der passende Name für die idealistische Ästhetik, die er unterstützt.“[13] Die klassischen Büsten und Figuren, die in Zoffanys „lebende Klasse“ eingestreut sind, spielen auf diese Ästhetik an. Schor schließt daraus, dass Reynolds klassischer Diskurs, in dem das Genie bestimmt wird durch die Fähigkeit, die Einheit zu begreifen – Reynolds nannte dies begeistert „DAS GANZE“ – und in dem das Weibliche mit dem Detail in Verbindung gebracht wird, das die männliche Gesamtheit in Gefahr bringt, sich nicht vom Diskurs der Misogynie trennen lässt.[14]

Idealistische Zugänge zur Kunst sind selten auf den Klassizismus des 18. Jahrhunderts beschränkt; sie haben sich über Jahrhunderte hinweg in der verbreiteten Vorstellung erhalten, dass das Kunstwerk eine vollständige und autonome Einheit darstellt, die die BetrachterInnen über alle Zufälligkeiten des materiellen Lebens erhebt. Zoffanys Life Class ist demnach nicht nur ein Werk seiner Zeit, das den historischen Ausschluss der Frauen aus der künstlerischen Bildung dokumentiert. Es legt auch Rechenschaft ab über die Transformation der weiblichen Figur von der Künstlerin zum Bild, vom betrachtenden Subjekt zum visuellen Objekt, zu dem was Feministinnen zweihundert Jahre später theoretisch als Signifikant des „Angeschaut-Werdens“[15] erfasst haben. Das heißt, es dokumentiert die Ökonomie der Repräsentation, die Freud Fetischismus genannt hat, eine Perversion, die dem phallozentrischen Versuch entspringt, den weiblichen Körper zu besiegen. Zoffany zeigt uns unabsichtlich, dass die ästhetische Institution ein männliches Schlachtfeld ist – ein vielmehr autoritärer als demokratisch-agonistischer Bereich – in einem Sinn, der sich einigermaßen von dem unterscheidet, was Woolf sich vorgestellt hatte.

Bis jetzt habe ich argumentiert, dass Woolfs feministische Kampfansage an die kulturellen Institutionen nicht Gender-exklusiv ist. Ebenso wie sich Frauen mit männlichen Positionen identifizieren können, ist es Männern, die historisch die tatsächlichen Machtpositionen besetzt hielten, möglich, sich von ihnen zu „ent-identifizieren“. Das heißt, es kann eine nicht-phallische Männlichkeit geben. Dennoch ist es interessant festzustellen, dass in den 1970ern und 1980ern, als eine Gruppe von vorwiegend weiblichen KünstlerInnen einschließlich Louise Lawler in die Kunstinstitutionen vordrangen, um sie eben als Schlachtfelder zu erforschen, sie das auf eine von der ersten Welle der institutionskritischen KünstlerInnen sehr verschiedene Weise taten.[16] Während Marcel Broodthaers, Hans Haacke, Daniel Buren und Michael Asher die Aufmerksamkeit auf die Anwesenheit von ökonomischer und politischer Macht im angeblich reinen und neutralen Museumsraum lenkten und auf die Form, in der das Museum dominante Ideologie verkörpert und diskursive Macht ausübt, und während Werke wie Broodthaers’ Décor: A Conquest (1975) und Haakes MoMa Poll (1970) auf unterschiedliche Weise vor allem die Museen mit dem Krieg in Verbindung brachten, haben so verschiedene KünstlerInnen wie Lawler, Victor Burgin, Andrea Fraser, Judith Barry, Silvia Kolbowksi, Barbara Kruger, Sherrie Levine, Fred Wilson, Mary Kelly und andere diese Kritik sogleich erweitert und hinterfragt. KunsthistorikerInnen haben eine Reihe von Möglichkeiten vorgeschlagen, um die Werke der so genannten ersten „Generation“ von InstitutionskritikerInnen von der zweiten, postmodernen Generation, insbesondere von Lawler zu unterscheiden. Die zweite hinterfragt eher die Autorität ihres eigenen Sprechens, als dass sie einfach nur die autoritäre Stimme von Museen, Unternehmen und Regierungen problematisiert;[17] Lawler verortet die institutionelle Macht in einer „systematisierten Anordnung von Präsentationsverfahren, während Asher, Buren, Haacke und Broodthaers die Macht in zentralisierten Gebäuden oder Eliten situieren“;[18] und sie erforscht nicht nur die kontextuelle Sinnproduktion, sondern in dekonstruktivistischer Weise auch die Grenzenlosigkeit des Kontexts.[19] Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die feministischen PostmodernistInnen im Gegensatz zur ersten Generation von der Psychoanalyse beeinflusst waren und in unterschiedlichem Maß die politische Notwendigkeit erkannten, die Beziehungen zwischen psychischen und sozialen Bereichen zu artikulieren. Den Spuren Woolfs folgend näherten sie sich den Institutionen der ästhetischen Darstellung nicht nur als den ProduzentInnen von bourgeoiser Ideologie, sondern auch als Räume, in denen sich gefährliche männliche Phantasien verfestigt haben.

 

Louise Lawler, Statue before Painting, Perseus with the Head of Medusa by Canova, 1982


Lawler war möglicherweise keine Vertreterin des psychoanalytischen Feminismus, aber viele ihrer Photographien führen uns ins Zentrum solcher „erstarrten Wünsche.“ Und sie tun dies mit etwas, das Birgit Pelzer treffend als eine „Dosis Spott“ bezeichnet.[20] Der Literaturtheoretiker Kenneth Gross verwendet den Begriff „erstarrte Wünsche“ in The Dream of the Moving Statue, einem Buch über die Beziehungen von Standbildern zur Phantasie, über Statuen als Phantasien. „Plastische Werke“, schreibt Gross, sind „erstarrte Wünsche oder Transportmittel für einen Wunsch nach erstarrten Dingen.“[21] Das erscheint zutreffend, da manche der Werke, in denen Lawler das Phantasieleben der Kunstinstitutionen äußerst scharfsinnig darstellt, in den späten 1970ern und frühen 1980ern aufgenommene photographische Gruppen sind, die figurative Plastiken, insbesondere klassische und neoklassische Statuen in Museumsanordnungen abbilden. Statue before Painting, Perseus with Head of Medusa, Canova (1983) ist dafür exemplarisch.

Die Abbildung wurde als Anfangsbild von Lawlers zuerst veröffentlichtem Portfolio jener Photographien verwendet, die sie als „Bilderarrangements“ bezeichnet. Die schwarz/weiß-Sammlung, ihrerseits ein Bilderarrangement, erschien in der Herbstausgabe 1983 des Magazins October. Lawlers „Arrangements“ bilden Kunstobjekte in ihrem Ausstellungskontext ab und richten die Aufmerksamkeit auf den Repräsentationsapparat besonderer Kunstinstitutionen und gleichzeitig auf die „Kunst als Institution“, eine Phrase, die Peter Bürger geprägt hat, um auf einen weiter ausufernden ästhetischen Apparat hinzuweisen. „Mit dem Begriff Institution Kunst sollen hier sowohl der kunstproduzierende und -distribuierende Apparat als auch die zu einer gegebenen Epoche herrschenden Vorstellungen überhaupt bezeichnet werden, die die Rezeption von Werken wesentlich bestimmen.“[22] In solchen Werken wie Statue before Painting bringt Lawler bestehende museologische Anordnungen von Kunstwerken zur Darstellung und macht die Elemente des Repräsentationsapparats sichtbar, der, obwohl autoritativ, generell am Rand des visuellen und kognitiven Felds der MuseumsbesucherInnen liegt – Architektur, Beschriftungen, Vitrinen, Sockel, Wachpersonal, Installationsphotos, Kataloge, Sicherheitssysteme usw. Lawler eignet sich die Museumsarrangements an und ordnet sie in einer Weise neu an, die an Freuds Zugang zur Traumdeutung erinnert, ein Zugang, der den Raum der Träume neu ordnet und seine peripheren Elemente und Details ins Zentrum bringt (und umgekehrt), um die Traumarbeit zu analysieren, die den Wunsch im Nabel des Traums verwandelt. Wenn es auch verlockend ist, Lawlers Arrangements mit ihren fragmentierten Objekten, übertriebenen Details und rätselhaften Nebeneinanderstellungen als Traumszenarien zu betrachten, können sie dennoch präziser als Analysen von Museums-„Träumen“ angesehen werden, als Begehren, das sich in ihren Anordnungen verkörpert.

Lawler nahm Statue before Painting, Perseus with Head of Medusa, Canova im New Yorker Metropolitan Museum of Art von der Perspektive des Balkons der Großen Museumshalle auf, in der Antonio Canovas Marmorstatue aufgestellt war. Die Statue nahm einen Platz in der Begehungsachse des neoklassischen Museumsgebäudes ein, die an den Stufen des Haupteingangs beginnt, durch die Große Halle zum zentralen Treppenaufgang führt – beide können vom Balkon aus überblickt werden – und im gewölbten Eingang zu den Galerien der europäischen Malerei endet. Perseus stand dem Eingang gegenüber, neben einem verdoppelten Bogengewölbe auf dem Balkon. Der offizielle Museumsführer beschreibt sie als eine zweite, weiter verbesserte Version einer Plastik, die in ihrer ersten Ausführung und Ausstellung zwischen 1770 und 1800 in Canovas Atelier „als das letzte Wort in der fortwährenden Verfeinerung des neoklassischen Stils gepriesen wurde.“[23] Ebenso wie „Reynolds“ ist auch „Canova“ ein passender Name für idealistische Ästhetik, deren patriarchale Verhältnisse von sexueller Differenz, die in Zoffanys Life Class festgestellt wurden, im annähernd zur selben Zeit entstandenen Perseus konkretisiert sind. In Lawlers Photographie aus einem niedrigen, schiefen Winkel gesehen und radikal an der oberen Ecke des Fotos abgeschnitten, nimmt Canovas Statue, sein Phallus und Sockel – das architektonische Äquivalent des Phallus – im Blickfeld des/der BetrachterIn den Vordergrund ein. Durch die gleichzeitige Verschiebung in den rechten Bildwinkel ist die Statue aus ihrer zentralen Position vertrieben und sprengt die symmetrische Museumsanordnung. Hinter Perseus neben der Balustrade des Balkons steigt von Korinthischen Säulen flankiert der Treppenaufgang aus der Großen Halle empor und führt zum doppelten Bogengewölbe, durch das die BesucherInnen nach dem Aufstieg der Treppen die Gemäldesammlung betreten. Von den Bogengewölben umrahmt hängt Giovanni Battista Tiepolos Der Triumph des Marius (1729) als Eröffnungsgemälde im Museumsvorraum zur Geschichte der westlichen Malerei. Sein oberer Teil ist von der unteren Ecke einer Inschrift abgeschnitten, die das Wort Malerei trägt, eine Verstümmelung, die derjenigen der Perseus-Statue entspricht, die Lawler mit Tiepolo in eine Linie bringt. Eine zweite Entsprechung besteht darin, dass das gewaltige Gemälde die BetrachterInnen klein erscheinen lässt, die zu ihm in einer Haltung aufschauen, die in Lawlers Photographie mit unserem eigenen Blickwinkel auf Statue und Phallus übereinstimmt. Lawler verstärkt diese Perspektive, indem sie ihre ZuschauerInnen in eine Lage versetzt, die nicht nur die der abgebildeten Betrachterinnen von Tiepolo nachahmt, sondern auch die eines kleines Kindes, das einen Blick auf die Genitalien seiner Eltern erhascht. Sie suggeriert damit vielleicht unbeabsichtigt, dass das psychische Leben des Museums eine Beziehung zu den frühkindlichen Phantasien unterhält. Die Nebeneinanderstellung des BetrachterInnenstandpunkts angesichts von Tiepolo mit Lawlers zu Perseus hinauf gerichteten Blick buchstabiert sowohl die Ehrerbietung, mit der Kunstinstitutionen Kunstwerke behandeln, als auch die Verehrung, mit der das klassische Altertum den als figurative Repräsentation des männlichen Organs bestimmten Phallus betrachtete. Indem sie die Aufmerksamkeit auf die Form lenkt, durch die die Museumsanordnung eine BetrachterInnenposition vorschreibt, die eine bestimmte Betrachtungsweise bestärkt, macht Lawler, wie wir sehen werden, Perseus zugleich zur Zielscheibe des Spotts, sie positioniert ihr Publikum konsequent um und lädt es ein, sich der Ehrerbietung zu widersetzen.   

Betrachten wir zunächst eine weitere Ähnlichkeit zwischen Tiepolo und Canova, diesmal auf der thematischen Inhaltsebene: Beide bilden eine gewaltsame Eroberung ab, in der ein männlicher Protagonist seine Autorität durch die Beherrschung der – „rassischen“ und sexuellen – Differenz befestigt. Beide verherrlichen den Krieg. In den Worten des Museums zeigt Der Triumph des Marius „den römischen General Gaius Marius im Triumphwagen, während der besiegte afrikanische König Jugurtha ihm in Ketten gefesselt vorangeht. [...] Die lateinische Inschrift am oberen Zierrahmen lautet übersetzt: ‚Die römische Bevölkerung erblickt Jugurtha mit Ketten beladen.’“[24] Canova seinerseits portraitiert den klassischen Helden Perseus, der das soeben abgeschlagene Haupt der Medusa empor hält. Medusa ist selbstverständlich das weibliche Monster der klassischen Mythologie mit Schlangen statt Haaren, dessen Blick die Männer in Stein verwandelte.

Seinerzeit besaß Medusas Haupt unter den in der darstellenden Kunst tätigen psychoanalytischen Feministinnen vor allem deshalb beträchtlichen Wert, weil Freud 1922 einen kleinen Essay darüber schrieb und weil Laura Mulvey in einem ebenfalls kurzen Text von 1973 „You Don’t Know What Is Happening, Do You Mr. Jones?“, dem Vorläufer ihres berühmten „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, Freuds Interpretation zur Grundlage einer Theorie der phallozentrischen Anteile an der Bildbetrachtung gemacht hat.[25] Darüber hinaus wurde Medusa in Texten wie etwa Hélène Cixous’ „Das Gelächter der Medusa“ von 1975[26] zum Symbol von feministischer Subversion der phallozentrischen Herrschaft. Bekanntlich analysierte Freud das Medusenhaupt als Fetisch: Ein – in diesem Fall visuelles – Objekt männlicher Fixierung, das der Angst vor dem weiblichen Körper entspringt, der (fälschlicherweise) als kastriert wahrgenommen wird, dem der Penis und, wichtiger noch, der Phallus fehlt, der Signifikant der Anwesenheit, der das Subjekt vervollständigt. Für Freud symbolisiert Medusas Furcht erregendes, abgeschlagenes und von Haaren umgebenes Haupt die weiblichen Genitalien und damit die Kastrationsangst. Gleichzeitig dient es als „Merkmal des Triumphs“ über die Kastrationsangst, ein Objekt, das die Bedrohung der sexuellen Differenz leugnet und beherrscht. Visuell beinhaltet es einen vielfältigen Penisersatz in Form von Medusas Schlangenhaaren, und auf narrativer Ebene verwandelt es Männer in Stein, indem es sie versteift und der Anwesenheit des Penis versichert. Mulvey argumentierte, dass, gerade weil Medusas Haupt kein Bild einer Frau, sondern vielmehr ein Bild des bedrohten und in seiner Ganzheit wiederhergestellten männlichen Subjekts ist, in einer von phallozentrischen Menschenkategorisierungen organisierten Kultur, in der das Weibliche mit Abwesenheit und Verlust gleichgesetzt wird, Bilder von Frauen auf unterschiedliche Weise als Selbstbilder der Männer dienen, oder, noch entscheidender, als Bild des narzisstischen männlichen Ego. Der feministische Diskurs über den Fetischismus beschäftigte sich mit der Charakteristik der insbesondere durch den Blick bestärkten männlichen Subjektivität.

Als October Lawlers „Arrangements of Pictures“ veröffentlichte, wurde Statue before Painting fälschlich als Statue before a Painting betitelt. Die redaktionelle „Korrektur“ – das Hinzufügen des unbestimmten Artikels „a“ – war vom Scheitern daran verursacht, den Witz des Titels zu begreifen. Der tatsächliche Titel ahmt die Phrase „Ladies before Gentleman“ nach, die Teil des idealisierenden patriarchalen Diskurses ist und hier stellvertretend für ihn auftritt, ein Diskurs, der die Frauen angeblich auf einen Sockel stellt. In Verbindung mit der Photographie verknüpft der Titel patriarchale Ideale mit einer von der neoklassischen Statue repräsentierten idealistischen Ästhetik und behauptet, dass es im Museum eine Anordnung von sexuellen und ästhetischen Hierarchien gibt. Das Bild kehrt die Genderordnung der ursprünglichen Phrase um, da hier eine männliche Statue – eine phallische Figur – vor einem Gemälde und auf einem Sockel steht. Aber die Umkehrung entblößt nur die wirklichen Genderverhältnisse hinter den idealisierenden Anordnungen und zeigt, dass im patriarchalen visuellen Feld „das tatsächlich Dargestellte immer der Phallus ist“, wie es Mulvey ausdrückt.[27] In bestimmtem Maß erobert Lawler die künstlerische Praxis zurück, die unter gewissen BildhauerInnen von der Mitte der 1950er bis in die späten 1960er vorherrschte und die Mignon Nixon in ihrer ausgezeichneten Studie über Louise Bourgeois „die Ausstellung des Phallus“ nennt. Nixon argumentiert, dass diese Praxis den Phallus mit Humor ins Visier nahm und den politischen Effekt hatte, ihn als patriarchales Symbol zu unterwandern und die Ernsthaftigkeit des Fetischismus umzukehren.[28] Doch Lawlers Werk unterscheidet sich von dem früherer KünstlerInnen, da sie, anstatt einen Phallus zu formen, ihre gebräuchlichen Techniken von Aneignung und Montage anwendet – und „durch Anordnung und Nebeneinanderstellung Bedeutung schafft“[29] –, um einen vorgefundenen Phallus auszustellen, einen der vielen „readymade“-Phalli, die in Kunstmuseen wuchern wie die Schlangen auf Medusas Haupt. Durch die Ausstellung des Phallus im Kontext einer institutionskritischen Arbeit, in der Perseus die Position des Wächters der Gemäldesammlung des Museums einnimmt, zeigt Statue before Painting die Rolle, die Kunst als Institution in der Reproduktion sexueller Normen und der Aufrechterhaltung der patriarchalen Überbewertung des Phallus spielt.[30] Einerseits kommentiert die Photographie den historischen Ausschluss weiblicher Künstlerinnen aus dem Museum und andererseits spielt sie auf das männlich dominierte Wiederaufleben traditioneller Malerei an, die von den Kunstinstitutionen in den 1970ern und 1980ern legitimiert wurde. Aber Lawlers Photographie spielt dem Metropolitan einen größeren Streich. Sie deutet an, dass das, was hinter der ästhetischen Anordnung des Museums liegt, das, was ihr vorangeht oder wichtiger ist als sie, das Begehren ist, das sowohl in formaler als auch inhaltlicher Hinsicht in Canovas Perseus-Statue erstarrte. Die idealisierte, neoklassische Plastik, Ersatz für einen idealen Körper, materialisiert die phallozentrische Phantasie vom Ich, einem Ich, das in seinem Traum von Autonomie den konstitutiven Ausschluss des Anderen und seine Beziehung zu ihm nicht anerkennt. Tatsächlich beschreibt Jacques Lacans Schrift über das Spiegelstadium als Matrize der narzisstischen Ich-Konstitution dieses Spiegelstadium – die äußere Reflexion eines idealisierten Ich – als „Standbild, auf das hin der Mensch sich projiziert.“[31] Die Ikonographie von Perseus und Medusa stellt – ebenso wie die Geschichte, die in Tiepolos Gemälde erzählt wird – die Unterwerfung und Eroberung des Anderen – die kriegsähnliche Haltung – in den Vordergrund, die erforderlich ist, um die narzisstische Fiktion aufrecht zu erhalten. Die phallische Statue spielt metonymisch auf das triumphalistische Subjekt an, das von der idealistischen Ästhetik des Museums vorgestellt wird.

Statue before Painting entzieht Perseus das Merkmal seines Triumphs; Medusas Haupt ist aus dem Rahmen gedrängt. Perseus ist geköpft und es scheint, als ob ihn Medusa, selbst eine Art von Bildhauerin, in Stein verwandelt hat. Selbstverständlich erfüllt das auch den Wunsch, der seine Kastrationsangst besänftigt und bezeugt. Doch das am meisten beunruhigende Thema der Photographie ist der Angriff auf die Integrität des männlichen Körpers. Der photographische Ausschnitt fordert die Abgeschlossenheit der Plastik heraus und wendet sie nach Außen. Christian Metz zufolge ist der photographische Ausschnitt, der „in der Photographie einen off-frame-Effekt“ hervorbringt, eine Kastrationsfigur, denn „er markiert den Ort einer unumkehrbaren Abwesenheit, einen Ort, von dem der Blick für immer abgelenkt ist.“[32] Lawlers Ausschnitt lenkt die Aufmerksamkeit auf drei Objekte, die innerhalb des Rahmens bleiben und Versuche sind, die Integrität als Fetische wieder herzustellen und die Verletzlichkeit zu leugnen – Sockel, Phallus und Museumsbeschriftung, ein Element, das den Phallus visuell wiederholt und ohne Zweifel den Eigennamen des Künstlers trägt, den „Namen des Vaters“, Lacans Name für die patriarchale Ordnung der sexuellen Differenz.[33] Genau durch die Bedeutung, die Lawler diesen Elementen gibt, nimmt sie ihnen ihre Autorität,[34] ebenso wie sie es mit dem großen Treppenaufgang macht, seinerseits eine erhebende Struktur, die die BetrachterInnen symbolisch erhöht, ebenso wie ein Sockel das Kunstwerk über alle Zufälligkeiten des Alltagslebens emporhebt und die BetrachterInnen ermutigt, die selbst-beobachtende Position einzunehmen, die George Bataille in seiner Bestimmung des Museums eben als einen Spiegel beschrieben hat:

„Es verhält sich nicht nur so, dass die Museen der ganzen Welt heute eine kolossale Ansammlung von Reichtümern darstellen, sondern entscheidender noch, dass diejenigen, die diese Museen besuchen, zweifellos das großartigste Schauspiel einer Menschheit ausmachen, die von materiellen Überlegungen befreit und der Anschauung hingegeben ist. Wir müssen feststellen, dass die Galerien und Kunstobjekte nur ein Behälter sind, dessen Inhalt von den BesucherInnen gebildet wird. [...] Das Museum ist der kolossale Spiegel, in dem sich die Menschen letztlich in jeder Hinsicht selbst betrachten, sich selbst buchstäblich für bewundernswert halten und sich der Ekstase hingeben, die in allen Kunstmagazinen zum Ausdruck kommt.“[35]

 

Louise Lawler, The Rude Museum, 1987


Statue before Painting enthüllt die Positionierung der BetrachterInnen durch das Museum und lehnt sie mit überlegener Ökonomie ab. Wie ein wirklich guter tendenziöser Witz, der es Freud zufolge dem/der ErzählerIn und dem/der RezipientIn, oder in unserem Fall dem/der KünstlerIn und dem/der BetrachterIn, erlaubt, das Vergnügen auszukosten, dem „Große[n], Würdige[n] und Mächtige[n]“[36] gegenüber unhöflich zu sein. Tatsächlich nennt Lawler eine ihrer späteren Bilderarrangements, eigentlich ein Arrangement von Statuen, The Rude Museum (1985).

„Rude“ bezieht sich auf das inhaltliche Thema der Photographien – das dem Werk François Rudes, eines französischen Bildhauers des 19. Jahrhunderts, gewidmete Museum – aber es kann auch als Wortwitz verstanden werden, der auf die barbarischen von Kunstinstitutionen bestärkten Phantasien und darüber hinaus auf die ungebührlichen Maßnahmen anspielt, mit denen Lawler selbst durch diese und andere Photographien Museen neu anordnet und, wie ich ausgeführt habe, deren Phantasien bloßlegt. Damit spielt er auf Lawlers eigene rüde Museen an. Das tatsächliche Rude Museum liegt im Querschiff der Kirche St. Etienne in Dijon und besteht aus Abgüssen von Rudes Werken, einem großen Patrioten und Bewunderer der Antike, auch wenn sie in seinen Plastiken durch romantische Gestalten wiedergegeben wird. Ein Gipsabguss von Rudes bekanntestem Werk, dem großen Steinrelief auf dem Pariser Triumphbogen Abmarsch der Freiwilligen von 1792, das gemeinhin als La Marseillaise (1833–1836) bekannt ist, beherrscht den oberen Teil von Lawlers Photographie. In der Nähe vom Zentrum des Reliefs, das durch Lawlers Rahmung abgeschnitten wird, so dass die darüber schwebende gewaltige Figur einer besonders militaristischen Freiheit nicht sichtbar ist, befindet sich ein von der Klassik inspirierter männlicher Akt, der in den Krieg zieht. Rudes Soldat ist wie Canovas Perseus durch Lawlers photographischen Ausschnitt geköpft, ein Schnitt, der das Schicksal der späteren Opfer der Französischen Revolution vorausahnen lässt. Im Vordergrund, das angeschnittene Hinterteil den BetrachterInnen zugewandt, kauert ein von François Pompon (1855–1933) gestaltetes großes Nilpferd. Es reckt seinen Kopf, reißt sein Maul auf und gähnt den ausgestellten Phallus des Helden an. Das Nilpferd könnte einfach als eine weitere Zielscheibe von Lawlers Humor angesehen werden, aber ich ziehe es vor, es für ihren Verbündeten zu halten, ein repoussoir Element, das nicht nur die Hauptszene zurückdrängt, sondern durch seine komische Ehrerbietung (und sein aufgerissenes Maul) auch als eine eindrucksvolle Bedrohung der phallischen Figur funktioniert – als rüder Betrachter im Rude Museum, genauso wie Lawler und jene, die bereit sind, ihrem tendenziösen Witz zu lauschen.

 

Louise Lawler, Birdcalls (1972/1981)


Im Bezug auf gleichfalls mit Hilfe wilder Tiere ermöglichter spöttischer Ungebührlichkeit übertrifft nichts Birdcalls (1972/1981), ein Tonband, auf dem Lawler quiekt, kreischt, zwitschert, schnattert, krächzt, quietscht und gelegentlich Namen trällert – hauptsächlich Nachnamen – von 28 zeitgenössischen männlichen Künstlern, von Vito Acconci bis zu Lawrence Weiner.[37] Das von Terry Wilson aufgenommene Tonband klingt so, als ob sich verschiedene Vogelarten in irgendeiner natürlichen Umgebung, etwa in einem Garten oder Wald, zurufen würden. 1984 gab ihm Andrea Miller-Keller, Kuratorin im Wadsworth Atheneum, in dem das Werk vorgeführt wurde, den Spitznamen „patriarchaler Rollenschrei“.[38]

Als Lawler das Tonband herstellte, war sie sich des genauen Unterschieds zwischen den beiden Arten der Tonsignale von Vögeln nicht bewusst: Schreie und Lieder. Sie wählte Schreie als Titel aus, weil sie dachte, dass Lied für den Vogel mit Vergnügen verbunden sei, während ihr Schrei schärfer erschien.[39] Ihre Wahl stellte sich hinsichtlich der Intention und Ausführung des Werks als höchst zutreffend heraus, da üblicherweise männliche Vögel mit Liedern herausplatzen, komplexen Notenmustern, die benützt werden, um Gefährtinnen anzulocken oder Territorien abzustecken. Schreie bestehen im Gegensatz dazu aus einem oder mehreren kurzen, wiederholten Tönen, die Mitteilungen über besondere Situationen vermitteln. Wenn beispielsweise ein Raubvogel in die unmittelbare Umgebung eindringt, schlagen Vögel Gefahrenalarm und stoßen Schreie aus, um die Anwesenheit einer Bedrohung zu signalisieren und die Gruppenaktivität dagegen zu koordinieren.[40] Lawlers Birdcalls sind ebenso in einem Akt von Selbstverteidigung entstanden. Lawler erzählt Douglas Crimp:

„In den frühen 1970ern halfen meine Freundin Martha Kite und ich einigen KünstlerInnen an einem der Hudson-River-Pier-Projekte. Die beteiligten Frauen leisteten Tonnen von Arbeit, aber die ausgestellten Werke waren ausschließlich von männlichen Künstlern. Wenn man in New York in der Nacht nach Hause geht, besteht eine Möglichkeit, um sich sicher zu fühlen darin, so zu tun, als ob man verrückt ist, oder darin, dass man zumindest wirklich laut ist. Martha und ich nannten uns die „due chanteusies“ und wir sangen falsch und machten anderen Lärm. Willoughby Sharp war der Impressario des Projekts, und so machten wir einen „Willoughby, Willoughby“ Gesang und versuchten wie Vögel zu klingen. Daraus entwickelte sich eine Reihe von Vogelschreien auf der Grundlage von Künstlernamen. Es war daher tatsächlich antagonistisch...“[41]

Die Vogelschreie begannen als eine humoristische gegen Raubvögel gerichtete Antwort auf die Gegenwart von zwei Gefahren in Kites und Lawlers Umfeld: physischer Angriff in den Straßen der Stadt und Diskriminierung in der alternativen Kunstwelt. Indem Lawler eine möglicherweise unbeabsichtigte Parallele zu wirklichen Vögeln herstellt, beschreibt sie die ersten Vogelschreie als „instinktiv.“[42] Dabei ist es interessant, dass Vogelschreie, einschließlich der Alarmschreie, nicht einfach unfreiwillige, impulsive emotionale Ausbrüche sind, sondern kontrollierbare Kommunikationssysteme.[43] Ihre Häufigkeit wird von der An- oder Abwesenheit von GefährtInnen beeinflusst, ein Phänomen, das die OrnithologInnen „Publikumseffekt“ nennen. Manche Vogelklänge werden erlernt;[44] einige Vögel, die das Gebiet überwachen, schlagen sogar „falschen Alarm.“ Die Fähigkeit der Vögel zur Subversion entspricht Lawlers Taktik in Birdcalls, da sie, während sie sich selbst in der Natur verortet, die von patriarchalen Systemen von Repräsentation und sexueller Differenz traditionell der Kultur entgegen gesetzt und mit dem Weiblichen assoziiert wird, die Natur nicht als Ort der Einschränkung, sondern vielmehr als Rückzugsgebiet und Versteck behandelt, als Zufluchtsort, in dem sie Mulveys „Angeschaut-Werden“ entfliehen kann oder dem, was Michel Foucault „Falle“ oder „Käfig“ der Sichtbarkeit nannte.[45] Indem sie – allerdings nur zum Spaß – den Platz einnimmt, der den Frauen vorgeschrieben wird (und in dieser Hinsicht muss festgehalten werden, dass bird ein Slangausdruck für junge Frauen ist) – und Natur buchstäblich spielt –, eignet sie sich die Natur als eine Grundlage an, von der aus sie Töne als Munition gebrauchend Streifzüge ins Territorium der Kultur unternimmt, Spannung in ihre hierarchischen, gegenderten Dichotomien hineinbringt und ihre angebliche Natürlichkeit zerstört. Gehört, aber nicht gesehen, fordert sie den Eigennamen heraus, das narzisstische Ego, den Namen des Vaters und damit das Verhältnis der Kunstwelt zur sexuellen Differenz und sie kommentiert die Tatsache, dass zur selben Zeit, als sie Birdcalls machte, „KünstlerInnen mit anerkannten Namen vorwiegend männlich waren.“[46]

Lawler produzierte das erste öffentlich präsentierte Tonband von Birdcalls 1981, als, worauf Crimp hinwies, die künftige Documenta 7 (1982) Gegenstand vieler Diskussionen in der Kunstwelt war.[47] Rudi Fuchs, Direktor der internationalen Ausstellung, plante die phallozentrische, ästhetizistische Vorstellung des Kunstwerks als eine vollständige Totalität, die ihre Existenzbedingungen transzendiert, zu untermauern und räumte daher dem neo-expressionistischen, Männer-dominierten Trend der 1970er und 1980er, der in beträchtlichem Maß einen Rückschritt zum Ästhetizismus ausmachte, einen bevorzugten Platz ein.[48] In vorbereitenden Versionen von Birdcalls schloss Lawler nur minimalistische, postminimalistische, konzeptuelle und Pop-Künstler ein. Dann fügte sie neo-expressionistische Maler wie Sandro Chia, Francesco Clemente, Enzo Cucchi, Anselm Kiefer und Julian Schnabel hinzu und nahm den neuen Aufschwung von männlichen, anerkannten Namen durch feministisches Namen-Schreien ins Visier.

 

Louise Lawler, Parrot


Birdcall ist eine Besonderheit in Lawlers Produktion, es ist ihr einziges Tonstück, wenn man die beiden Versionen von A Movie Will Be Shown Without The Picture (1979 und 1983) nicht mitzählt. Wenn sie Birdcall während der Präsentationen ihrer Werke zeigt, projiziert Lawler gleichzeitig eine Anordnung von Diapositiven. Einige tragen die Namen der Künstler, die geschrieen werden. Sie sind vermischt mit Diapositiven ihrer eigenen Werke und solchen männlicher Künstler. Nach dem Titeldiapositiv ist das erste Eröffnungsbild immer Statue before Painting, Perseus with Head of Medusa, Canova und dieses Arrangement weist darauf hin, dass es eine Entsprechung zwischen Tonband und Photographie gibt. Beispielsweise verwenden beide Mimikry. 1982 wollte Lawler eine Aufnahme von Birdcalls produzieren und hatte vor, eine Jacke mit der Photographie eines Papageis – ein ausgezeichneter Mime – zu schmücken, der vor einem strahlend roten Hintergrund misstrauisch über seine Schulter blickt.[49] Die Aufnahme wurde niemals gemacht, aber später verwendete Lawler die Photographie des Papageis in anderen Zusammenhängen und betitelte sie Portrait (1982).

Ihre ursprüngliche Verbindung zu Birdcalls vorausgesetzt, könnte die Photographie als Selbstportrait in Camouflage betrachtet werden, mit der Ausnahme, dass Lawlers Mimikry vom Mechanischen weit entfernt ist. Vielmehr besteht eine der von ihr verfeinerten Fähigkeiten darin, das Publikum vor der Gefahr „einer Position passiver Zustimmung“[50] mit den grandiosen Phantasien der Kunstinstitutionen zu warnen, deren kriegsähnliche Effekte, wie Virginia Woolf wusste, nicht zum Lachen sind.[51]




[1] Vgl.: Virginia Woolf (1936/1937), „Drei Guineen“, in: Ein Eigenes Zimmer. Drei Guineen. Essays, Leipzig: Reclam 1992, S. 125.

[2] Silvia Kolbowski fragt nach der Ablehnung der Psychoanalyse in der neueren Kritik: „Ist Psychoanalyse zu weiblich? D.h. zu ‚schwach’ um der politischen Analyse dienlich zu sein?“ Silvia Kolbowski, „Diary of a Buren Spectator“, in: October 115 (Winter 2006), S. 89.

[3] Virginia Woolf, „Drei Guineen“, S. 199–200.

[4] Mignon Nixon, Fantastic Reality: Louise Bourgeois and a Story of Modern Art, Cambridge: MIT Press 2005, S. 67.

[5] Sigmund Freud (1905), „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“, in: Studienausgabe Bd. 4, Psychologische Schriften, Frankfurt am Main: Fischer 2000, S. 98.

[6] Virginia Woolf, „Drei Guineen“, S. 132.

[7] Ibid., S. 133.

[8] Ibid., S. 136.

[9] Homi K. Bhabha, „A Good Judge of Character: Men, Metaphors, and the Common Culture“, in: Toni Morrison (Hg.), Race-ing Justice, Engendering Power: Essays on Anita Hill, Clarence Thomas, and the Construction of Social Reality, New York: Pantheon Books 1992, S. 242. Bhabha schreibt: „[...] ‚Männlichkeit’ als Position sozialer Autorität handelt nicht einfach von der Macht, die in ausgezeichnete männliche ‚Persönlichkeiten’ investiert wurde. Sie handelt von der Unterordnung und Aufhebung der sozialen Antagonismen; sie handelt von der Unterdrückung sozialer Trennungen; sie handelt von der Macht, einen ‚unpersönlichen’, holistischen oder universellen Diskurs über die Repräsentation des Sozialen zu autorisieren, der kulturelle Differenzen naturalisiert und in das Argument von einer ‚zweiten’ Natur verwandelt.“

[10] Walter Benjamin, „Thesen zur Geschichtsphilosophie“, in: Illuminationen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969, S. 271–272. [In den Gesammelten Werken findet sich der Text unter dem Titel „Über den Begriff der Geschichte“, vgl.: Gesammelte Werke, Bd. I.2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 696. (Anm. d. Übers.)].

[11] Virginia Woolf, „Drei Guineen“, S. 186.

[12] Linda Nochlin, „Why Have There Been No Great Women Artists?“, in: Art News 69, Jänner 1971, S. 22–39, 67–71. Zoffanys Gemälde ist auch Academicians of the Royal Academy betitelt.

[13] Naomi Schor, Reading in Detail: Aesthetics and the Feminine, New York u. London: Methuen 1987, S. 17.

[14] Ibid., S. 5.

[15] Laura Mulvey (1975), „Visuelle Lust und narratives Kino“, (übers. v. Karola Gramman) in: Gislind Nabakowksi, Helke Sander, Peter Gorsen (Hg.), Frauen in der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, Bd. 1, S. 30–46.

[16] Man könnte auch argumentieren, dass Lawler anders zur künstlerischen Tätigkeit gekommen ist, insofern sie „im Sprechen über die konventionelle Rolle der KünstlerInnen“ zurückhaltend war. Vgl.: „Prominence Given, Authority Taken: An Interview with Louise Lawler by Douglas Crimp“, in: Louise Lawler, An Arrangement of Pictures, New York: Assouline Publishing 2000, unpaginiert.

[17] Hal Foster, Rosalind Krauss, Benjamin H. D. Buchloh und Ives-Alain Bois, Art since 1900: Modernism, Antimodernism, Postmodernism, New York: Thames & Hudson 2004, Bd. 2, S. 624.

[18] Andrea Fraser, „In and Out of Place“, in: Art in America, Juni 1985, S. 123.

[19] Kate Linker, „Rites of Exchange“, in: Artforum, November 1986, S. 99.

[20] Birgit Pelzer, „Interpositions: The Work of Louise Lawler“, in: Louise Lawler and Others, Basel: Kunstmuseum Basel, Museum für Gegenwartskunst, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004, S. 32. Pelzer bezieht sich insbesondere auf die Sammlungen von Photographien, die Lawler in Büchern und Magazinen veröffentlicht hat.

[21] Kenneth Gross, The Dream of the Moving Statue, Ithaca u. London: Cornell University Press 1992, S. 198.

[22] Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 29.

[23] Kathleen Howard (Hg.), The Metropolitan Museum of Art Guide, New York: Metropolitan Museum of Art 1983/1994, S. 265. Eine Photographie im Museumsführer dokumentiert die museale Anordnung des Perseus.

[24] The Metropolitan Museum of Art Guide, S. 186.

[25] Sigmund Freud (1922), „Das Medusenhaupt“, in: Gesammelte Werke, 19 Bde., Frankfurt am Main: Fischer 1999, Bd. 17, S. 45–48; Laura Mulvey, „Fears, Fantasies and the Male Unconscious or ‚You Don’t Know What Is Happening, Do You Mr. Jones?’“ (1973) und „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ (1975), in: Visual and Other Pleasures, Bloomington: Indiana University Press 1989, S. 6–13 und S. 14–26.

[26] Hélène Cixous, „The Laugh of the Medusa“ (1975), in: New French Feminisms: An Anthology, hg. v. Elaine Marks und Isabelle de Courtivron, New York: Schrocken Books 1981, S. 245–264.

[27] Mulvey, „Fears, Fantasies and the Male Unconscious“, S. 13.

[28] Nixon, Fantastic Reality, S. 66. Nixons These unterscheidet sich von meiner insofern, als sie mit Bezug auf Melanie Klein argumentiert, dass Bourgeois, Jasper Johns, Yoyoi Kusama und Eva Hesse den Phallus insbesondere als Teil-Objekt – buchstäblich als Körper-Teil – ausstellten.

[29] „Prominence Given, Authority Taken.“

[30] Nixon schlägt vor, dass Bourgeois etwas ähnliches unternahm, als sie 1982 für ihre Retrospektive im Museum of Modern Art mit ihrer Plastik Fillette (1968) für ein von Robert Mapplethorpe produziertes Portrait posierte. Vgl.: Fantastic Reality, S. 71.

[31] Jacques Lacan, „Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“ (1949), in: Schriften I, Olten/Freiburg im Breisgau: Walter Verlag 1973, S. 65. (Hervorhebung durch die Autorin).

[32] Christian Metz, „Photography and Fetish“, in: Carol Squiers (Hg.), Overexposed: Essays on Contemporary Photography, New York: The New Press 1999, S. 217.

[33] Zur Liste der von Lawler betonten Fetische können wir auch Perseus Fuß in den geflügelten Sandalen zählen, die ihm Athene und Hermes geliehen hatten, um ihn in seinem Sieg über Medusa zu unterstützen. Erinnern wir uns daran, dass Freud darüber spekulierte, ob der Fußfetisch aus dem Umstand entspringt, dass die Füße der Frau das letzte sind was ein Kind wahrnimmt, bevor es ihre Genitalien sieht. Der Fußfetisch repräsentiert die Ablehnung des traumatischen Anblicks durch das männliche Subjekt.

[34] Lawler hat die Phrase „Bedeutung verliehen, Autorität genommen“ verwendet, die auch der Titel eines wichtigen Interviews ist, das sie mit Douglas Crimp geführt hat. (“Prominence Given, Authority Taken: An Interview with Louise Lawler by Douglas Crimp,” in: Lawler, An Arrangement of Pictures.) Die Phrase kann als Beschreibung der Positionierung von KünstlerInnen durch das Museum verstanden werden oder umgekehrt von Lawlers Widerstand gegen eine solche Positionierung.

[35] Georges Bataille, „Musée“, in: Oeuvres Complètes, 12 Bde., Paris: Galimard 1971–1988, Bd. 1, S. 239.

[36] Freud, „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“, S. 99.

[37] Die 28 Künstler sind Vito Acconci, Carl Andre, Richard Artschwager, John Baldessari, Robert Barry, Joseph Beuys, Daniel Buren, Sandro Chia, Francesco Clemente, Enzo Cucchi, Gilbert & George, Dan Graham, Hans Haacke, Neil Jenney, Donald Judd, Anselm Kiefer, Joseph Kosuth, Sol Lewitt, Richard Long, Gordon Matta-Clark, Mario Merz, Sigmar Polke, Gerhard Richter, Ed Ruscha, Julian Schnable, Cy Twombly, Andy Warhol und Lawrence Weiner.

[38] E-Mail Korrespondenz mit der Künstlerin vom 22. April 2005.

[39] Lawler im Gespräch mit der Autorin am 26. Februar 2005.

[40] Stephen W. Kress, Bird Life: A Guide to the Behavior and Biology of Birds, New York: St. Martin’s Press/Golden Guides 1991, S. 80.

[41] „Prominence Given, Authority Taken.“

[42] Ibid.

[43] Peter Marler und Christopher Evans, „Birdcalls: Just Emotional Displays or Something More?“, in: Ibis No. 138 (1995), S. 26–33.

[44] Fernando Nottebohn, „Hitting the Right Note,“ Rezension von Nature’s Music: The Science of Birdsong, hg. von Peter Marler und Hans Slabbekoorn, in: Nature, Bd. 435 (12. Mai 2005), S. 146.

[45] Michel Foucault, Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 257.

[46] „Prominence Given, Authority Taken.“

[47] Douglas Crimp, „Die Austellungskunst“, in: Über die Ruinen des Museums. Mit einem fotografischen Essay von Louise Lawler, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1996, S. 245.

[48] Lawler wurde nicht zur Teilnahme an der Documenta 7 eingeladen, aber Jenny Holzer und die alternative Galerie Fashion Moda baten sie, zu ihrem gemeinsamen Werk beizutragen: ein am Eingang der Ausstellung geparkter Lastwagen, in dem Gegenstände und Souvenirs verkauft werden sollten. Eine Ausführung darüber, dass Lawler als Verkäuferin in Fashion Modas Installation endete, findet sich bei Crimp, „Die Austellungskunst“.

[49] Lawler versuchte die Aufnahme im Lastwagen von Jenny Holzer und Fashion Moda bei der Documenta 7 zu verkaufen. (Vgl. die vorhergehende Fußnote).

[50] Künstlerinnenbroschüre Enough, verteilt während „Projects: Louise Lawler,“ im Museum of Modern Art, New York, vom 19. September bis zum 10. November 1987.

[51] Eine kürzlich entstandene photographische Arbeit von Lawler wiederholt diese Warnung, die besonders dringlich ist in einer Zeit, in der die Bush-Administration mediale Bilder von Särgen, die vom Irak-Krieg zurückkommen verbannt hat und bestimmte, vor allem arabische Tote als nicht zu Betrauernde eingestuft hat. Lawlers Bild, das die abgelösten Flügel der klassischen Statue von Nike, der Siegesgöttin, zeigt, ist als Grieving Mothers (Attachment) betitelt. Zu einer Diskussion dieses Werks siehe Helen Molesworths Essay im Katalog: Louise Lawler, Twice Untitled and Other Pictures (looking back), Wexner Center for the Arts und MIT Press 2006. [In diesem Katalog wurde auch der vorliegende Essay veröffentlicht. (Anm. d. Übers.)].

Rosalyn Deutsche

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