zuerst veröffentlicht in Freitag 19/2008
„1968 war das Hereinbrechen des Realen. […] es sind die Historiker, die das nicht verstanden haben, in solchen Augenblicken tritt die Differenz zwischen der Geschichte und einem Werden zutage, und der Mai '68 war ein Revolutionär-Werden ohne eine revolutionäre Zukunft. Hinterher kann man sich immer darüber lustig machen.“ (Gilles Deleuze)
Ganz ohne Jubiläumsdruck bezeichnet der französische Philosoph Gilles
Deleuze Ende der 1980er Jahre in den einzigen offiziellen Filmaufnahmen
seines stolpernd-strömenden Denkens (die zu seinen Lebenszeiten auch
nicht gesendet werden durften) die Ereignisse von 1968 als ein
Hereinbrechen des Werdens, genauer: des "Revolutionär-Werdens". Mit
dieser Formulierung wendet sich Deleuze zunächst gleich gegen zwei
gegensätzliche Aspekte der Interpretation von 1968. Er wendet sich
gegen die Idee des großen revolutionären Bruchs, des leninistischen
Einschnitts als historisch oder geografisch trennendes Element zwischen
dem trüben Dasein in kapitalistischer Vergesellschaftung und dem
paradiesischen Land des Sozialismus oder der revolutionären Zukunft.
Aber er wendet sich auch gegen die Historisierung, Rasterung und
Festlegung des Ereignisses, oder besser: der vielfältigen Zahl von
Ereignissen, die "1968" ausmachen. Die "Werden", um die es Deleuze
geht, sprengen Kontinuum und Homogenität linearer Geschichte und
Geschichtsschreibung.
Umso vehementer werden sie durch die unterschiedlichen Formate
der Geschichtsfestlegung zurechtgestutzt, von der schnellen
journalistischen Bewertung bis zur gründlich-nachhaltigen akademischen
Klassifizierung durch die Historiografie. Standen die ersten Jahrzehnte
nach 1968 im Zeichen des Kampfes um die Deutungshoheit, auch um die
positive Vereinnahmung der um 1968 entstandenen sozialen Bewegungen, so
scheint sich der Diskurs um das 40-jährige Jubiläum zumindest im
deutschsprachigen Raum mit seinen Renegaten-Protagonisten von Kraushaar
über Koenen bis Aly nun endgültig auf selbstgewisse Verächtlichkeit zu
verengen. "Hinterher kann man sich immer darüber lustig machen", sagt
Deleuze, doch das Lustigmachen, vor allem das gegenwärtige
Verächtlichmachen, geht völlig vorbei an den Ereignissen, an der
Vielheit der Brüche, an der Qualität der "Bresche" von 1968.
La Brèche, das war 1968 ein Daniel Cohn-Bendit zugeschriebener
Ausdruck für die Bresche, die die aufständischen Studenten und Arbeiter
in die Universitäten, Betriebe und Straßen von Paris schlugen. Es war
aber auch der Titel eines Buches von Cornelius Castoriadis, Claude
Lefort und Edgar Morin, die diesen Begriff zur Vergegenwärtigung des
eben gerade Geschehenen verwendeten, fast noch mitten im Geschehen
selbst verfasst, ähnlich vielleicht Marxens Text über die Pariser
Commune. Wie Der Bürgerkrieg in Frankreich noch Ende Mai 1871
gleich nach der Pariser "Blutwoche" publiziert wurde, so versuchten die
drei in linken Parteien und Zeitschriftenredaktionen (vor allem Socialisme ou Barbarie)
erprobten französischen Philosophen im Juni 1968, den Ereignissen
"treu" zu bleiben, in der Mitte zwischen Parteilichkeit und ersten
ernüchterten Distanzierungen.
Wie soll das aber gehen, den Ereignissen "treu" zu bleiben,
ohne in die authentizistische Pose des Kampfberichts zu verfallen?
Claude Leforts soeben zum ersten Mal in deutscher Sprache erschienener
Essay aus La Brèche heißt Die neue Unordnung,
und er legt darin eine Spur eines nicht-vereinnahmenden Narrativs von
1968, und zugleich eine Spur zur grundlegenden Doppeldeutigkeit des
Begriffs der Bresche. Eine Bresche schlagen, das heißt zunächst Mauern
zu durchbrechen; nicht nur jene materiellen Mauern der Universität von
Nanterre, die die extreme topografische Unwirtlichkeit der
vorstädtischen Wissensfabrik umgaben, sondern auch die vielen sozialen
Barrieren der repressiven Ordnung der Wissensproduktion, und später
jene anderer Felder. Das plötzliche Gewahrwerden, dass "die Zäune des
Kapitalismus eine Öffnung haben", dass die dichten Maschen dieser Zäune
in unerwarteten Momenten aufgeknüpft werden können, diese singuläre
Erfahrung kann schwerlich vom Ereignis 1968 getrennt werden.
"Eine Bresche schlagen" verwies 1968 in erster Linie nicht auf
ein Begehren nach der Übernahme von Staatsapparat und Ordnungsmacht,
die Bresche sollte vielmehr die Möglichkeit eines Neu-Beginnens
schaffen, "unstaatliche" Maschinen, eine "neue Un-Ordnung". Wie in der
Formulierung "in die Bresche springen" schon der soziale Aspekt der
Bresche durchklingt, so hat die Bresche also nicht nur destruktives,
sondern auch ein Potenzial der Neuzusammensetzung und Verkettung. Wie
die Bresche den Staat durchlöchert, statt ihn zu übernehmen, so
aktualisiert sie sich auch als Bresche in die neue, eigene soziale
Organisationsform: eine Fluchtlinie, die den gerasterten Raum von
Universität, Betrieb und Straße deterritorialisiert und aus ihm heraus
gezogen wird, um schließlich als Bresche einen eigenen Raum zu
kreieren, mit Lefort "einen Nicht-Ort" der Potenzialität, die sich von
Ereignis zu Ereignis weiter trägt, verändert und immer mehr mit sich
mitreißt. Und wie die Bresche nicht nur in den gerasterten Raum
geschlagen wird, sondern auch für noch so kurze Zeit einen neuen
glatten Raum ohne Kerbungen eröffnet, dienten die Barrikaden nicht nur
als Schutzwall, sondern auch als Raumzeit einer neuen instituierenden
Praxis; und das Aufreißen des Pflasters fand innerhalb dieser selben
Geste den Strand.
Die studentischen Akteurinnen der ersten Monate des Jahres
1968 entwickelten die zweifache Bresche, die deterritorialisierende und
rekompositorische Bresche in ihrer Praxis des Aufruhrs. Anstatt
"engagiert" waren sie "enragiert", um einen Begriff dieser Zeit zu
entwenden. Wie Hans Scheulen in seiner Einleitung zur deutschen Ausgabe
von Leforts Aufsatz schreibt, gibt es Grund zur Annahme, dass Lefort
selbst ein Enragé gewesen sein könnte, einer derjenigen, die ihre Rage,
ihre Wut, ihre Aufgebrachtheit nicht in die vorhandenen Partei- und
Gewerkschaftsorganisationen kanalisierten, sondern mit
situationistischen und anderen künstlerisch-politischen Instrumentarien
die - durch und durch politische - "Phantasie an die Macht" riefen. Die
wütende Bresche der Enragés bestand nicht in Boykott oder konkreten
Forderungen oder Streikaufrufen. Lefort schreibt: "Sie setzten die
Institutionen außer Stande zu funktionieren, sie setzten die Autorität
außer Stande ausgeübt zu werden, sie richteten sich öffentlich, vor den
Augen aller, in der Illegalität ein [...]"
Diese Illegalität der Enragés erwies sich nun allerdings nicht
nur nach außen, in die Richtung des Souveräns, des französischen
Staats, des Rektors gerichtet, sie wendete sich auch nach innen. Sie
war vor allem deswegen erfolgreich, weil sie "die Spielregeln
verletzte, die das Leben der Oppositionen steuerten". Von Anfang an
ohne Anführer, ohne Hierarchie, ohne Disziplin, so Lefort, seien sie
nicht zu verorten, aus Sicht der traditionellen Linken gar
"unzurechnungsfähig" gewesen. Diese unzurechnungsfähige Bewegung flieht
die Staatsapparate im Äußeren wie im Inneren: "Die Bresche, die sie in
die Universität schlägt, öffnet sie gleichzeitig in den kleinen
Bürokratien, die für sich die Forderungen und den revolutionären Kampf
in Beschlag genommen haben."
Die geschichtliche Festschreibung der Ereignisse, die den
Signifikanten 1968 ausmachen, interpretiert Lefort ähnlich wie Deleuze
als Element zur nachträglichen Wiederherstellung der Ordnung: "Man
möchte das Überraschende vergessen, den Diskurs von heute mit dem von
Gestern zusammenfügen und rasch Nutzen ziehen aus der Gelegenheit - so
wie die Plünderer nach einem Erdbeben." Die Plünderer des Ereignisses
1968 scheinen allerdings immer wieder zu kehren, scheinen die
Singularität der Ereignisse, die Bresche, den Riss in der Analyse immer
unverschämter und immer vollständiger kitten zu wollen, um mit Lefort
gesprochen am Ende zu schlussfolgern, dass "die Geschichte das Ereignis
selbst genau so gut hätte aussparen können". Diese allgemeine
Disposition der Erkenntnis, welche das Ereignis annulliert, ihm
allerhöchstens noch die Zeremonie des regelhaft wiederkehrenden
Begräbnisses gönnt, können wir im Diskurs um das wiederholte Jubiläum
nun aufs Neue verfolgen. 20 Jahre nach 1968 schrieb Lefort: "Man feiert
zwanzig Jahre später das Nichts." Und es lässt sich unschwer erkennen,
dass die spektakuläre Überbietungsstrategie heutiger Kommentatoren aus
ihrem Problem resultiert, dieses Nichts alle 10 Jahre, so auch nach 40
Jahren, sinnloserweise multiplizieren zu müssen.
"Aber die Spur des Risses wird bleiben, auch nachdem der
Schleier neu gewebt worden ist", sagt Lefort, und das lässt sich auch
auf seine textuellen Vergegenwärtigungen von 1968 beziehen. Allerdings
muss revolutionäres Werden heute anders aktualisiert werden als 1968.
Aus heutiger Perspektive scheint Leforts Fokus seltsam beschränkt auf
eine geografische und eine soziale Engführung. Ihr ist die translokale
und postkoloniale Sicht auf 1968 ebenso hinzuzufügen wie eine über die
wilde Selbstorganisation der Studentinnen hinaus gehende Analyse.
Lefort verweist jedoch immer wieder darauf, dass es falsch sei, die
studentische Revolte allein als "Auslöser" zu interpretieren. Sein
Interesse ist das des Beteiligten, der die spezifische Situiertheit des
Augenblicks entdeckt und sie untersucht am Ort seiner Teilhabe: "Man
sollte sich lieber fragen, was das Neue an der in Nanterre
unternommenen Aktion war und warum die Universität ein Ort ist, von wo
aus sich der Protest auf die übrige Gesellschaft ausbreiten kann."
In immer komplexeren Formen von Gouvernementalität, in einem
unübersichtlichen Amalgam aus freiwilliger maschinischer Indienstnahme
und repressiver sozialer Unterwerfung erweist sich eine Rückkehr zu
Leforts Analyse des sozialen Feldes Universität in all seiner Reduktion
für sinnvoll: der Universität als Ort des Privilegs und zugleich als
Ort, an dem wenigstens jenes Modell am besten verborgen war, dessen
Erschütterung und Transformation 1968 durchgesetzt wurde. Lefort
deutete allerdings schon 1968 ebenfalls an, worauf wir nach der
Transformation dieses Modells und nach einer Periode der studentischen
Mitbestimmung und Selbstverwaltung in den 1970ern und 1980ern
hinsteuerten: Kollektive Verwaltung der Universitäten "könnte mit
Kunstgriffen umgangen werden, wenn die Studenten der Verführung einer
neuen, scheinbar demokratischen Pädagogik erliegen würden, einen
bislang noch weitgehend äußerlichen Zwang verinnerlichen und zum
Beispiel akzeptieren würden, ihre eigene Arbeit zu messen und zu
beurteilen, wenn sie sich also selbst zu Urhebern einer Reglementierung
machen würden, die sie in das Korsett einer eng spezialisierten und
quasi beruflichen Ausbildung einsperrt." 40 Jahre später sind wir mehr
oder weniger in dieser Form der Einsperrung angelangt, die Lefort
einigermaßen weitsichtig ankündigt: Serviceorientierung,
Dauerevaluierung, Durchbürokratisierung nicht nur aller Akteurinnen,
sondern auch aller Vorgänge, Verhältnisse und Beziehungen, und das
alles in einer gouvernementalen Form der Pseudo-Freiheit, die die
Subjekte ihre eigene maschinische Indienstnahme selbst steuern lässt.
Anhand dieser wenig hoffnungsvollen Lage nicht nur an den
Universitäten lässt sich die Sache wohl weniger mit revolutionärem
Pathos als mit tastendem Fragen voranbringen, etwa von der Art: Wie und
wo sind die Prozesse des Werdens in diesen neuen Weisen der
Subjektivierung und des Wissens zu verketten? Wie kann der Kampf darum
geführt werden, dass die Bresche 1968 nicht weiter historiografisch
geschlossen wird, sondern neue Breschen ermutigt, auch in immer
komplexeren Kontexten? Welches eher enragierte als bloß engagierte
Verhalten führt zu einer neuerlichen Instituierung der doppelten
Bresche, das heißt zum Protest gegen die neoliberale Transformation der
Universität, und über den Protest hinaus zugleich auch zu alternativen
Formen der Wissensproduktion, zu neuen Formen der Selbstorganisation
der kognitiven Arbeit?
Das ist die Art von Fragen, die sich im kognitiven
Kapitalismus aufdrängen, und sie drängen sich immer massiver auf, nicht
nur in den Metropolen des "Westens". Und was jedoch das vorläufige
Nicht-in-Sicht-Sein neuer Breschen betrifft, weist Lefort in seinem
Text von und über 1968 nicht zuletzt darauf hin, dass die "objektive",
politische Lage vor dem französischen Mai 1968 schließlich auch
keineswegs auf eine revolutionäre Situation hinwies: eine stabile
Staatsgewalt, eine expandierende Wirtschaft, eine wirkungslose
parlamentarische Opposition, eine Bevölkerung, die sich in ihrer
Mehrheit nur in Wahlkampfzeiten für Politik interessierte: "Nein, dies
alles kündigte nicht für eine nahe Zukunft Barrikaden in den Straßen
von Paris und zehn Millionen von Streikenden an."
Claude Lefort: Die Bresche. Essays zum Mai ´68, übersetzt und eingeleitet von Hans Scheulen, erscheint im Mai in der Reihe es kommt darauf an im Wiener Verlag Turia + Kant.