Die unsympathischen 1990er Jahre
Die 1990er Jahre
brachten eine Reihe von unsympathischen Phänomenen hervor,
deren Ausläufer das Millennium bestimmen. Der Zusammenbruch
des Staatssozialismus entfesselte die Globalisierung,
so will es zumindest die neoliberale Erzählung. Die
deutsche-deutsche Wiedervereinigung 1990 gilt als Weltmodell
der Globalisierung en miniature. Die DDR, stellvertretend
für die sozialistische Orientierung Osteuropas, wurde
als Irrweg der Moderne gebrandmarkt und politisch, sozial
und kulturell neu vermessen. Der Westen, der anscheinend
über das überlegenere ökonomische Konzept verfügte,
übernahm die Deutungshoheit in allen gesellschaftlichen
Fragen. Dank IWF, WTO und Guggenheim setzte sich das
Reproduktionsprinzip im globalen Maßstab durch. Der
Exodus des Kapitals über nationale Grenzen hinweg schuf
einen "supranationalen Kapitalstaat" (André
Gorz), einen Staat ohne Territorium, der zwar von außen
auf den Nationalstaat einwirkt, aber sich selbst der
politischen Kontrolle entzieht.
Der Ende der 1980er Jahre in
die Krise geratene Kunstmarkt erholte sich Mitte der
1990er Jahre dank der an den Weltbörsen frisch verdienten
New Economy-Milliarden und hauchte tot gesagten Medien
wie der Malerei neues Leben ein, weil sie die Warenförmigkeit
der Kunst am besten reproduzieren. Jene kollektive kritische
Kunstpraxis, die sich in Opposition zu den Institutionen
an den Rändern des Betriebs entwickelt und kurzzeitig
Diskursmacht errungen hatte, wurde nach und nach zurückgedrängt,
um Platz zu schaffen für das altbewährte Individualmodell
künstlerischer Praxis. Intendanten-Künstler der Sorte
Matthew Barney sind die Profiteure dieser Entwicklung.
Die wohl unangenehmste Erscheinung unter den Phänotypen
der Endneunziger ist das aus sich selbst schöpfende
Künstlersubjekt, das wie eh und je einen ästhetischen
Früchtekorb für den bürgerlichen Disktinktionsgewinn
bereitstellt. Alte und - vom Standpunkt entwicklungsgeschichtlicher
Evidenz aus - erschöpfte Medien und Genres wie Malerei,
Skulptur und Zeichnung, die von einer politisierten
jungen Generation für erledigt erklärt worden waren,
erleben seit Mitte der 1990er Jahre eine Konjunktur,
die bis heute anhält. Fotografie und Video-Kunst sind
zur zeitgeistigen Ersatz-Malerei aufgestiegen; Fotografie
und Video-Kunst beherrschen die Kunstmessen und die
Großausstellungen. Ironischerweise war es der Erfolg
der High-Tech-Werte an den Börsen, der den Erfolg der
alten Medien beflügelte, die sowohl die documenta
X als auch die Biennalen Venedig 1999 und 2001 mit
einer nicht für möglich gehaltenen Penetranz dominierten.
Besonders bitter ist, dass Catherine David ihren kritischen
documenta-Diskurs
1997 ausgerechnet mit einem Overkill an fotografischen
Arbeiten illustrierte. Aber auch die Documenta11
von Okwui Enwezor, der die Bildende Kunst in einen übergreifenden
Diskurs zwischen Postkolonialismus und Globalisierung
einbettete, kam nicht ohne Videokabinette aus.
Produktionsort für Zeitgenössische Kunst und Kritik
Die Kokerei Zollverein | Zeitgenössische Kunst und Kritik in Essen war ein Kunstprojekt, das von 2001-2003 für insgesamt fünf Jahre ein Produktions-Display für den Wandel der Arbeits- zur Wissensgesellschaft entwickelte. Ende 2000 von der in Dortmund ansässigen Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur aufgefordert, verfasste Florian Waldvogel, der zusammen mit dem Verfasser dieses Textes das Programm der Kokerei Zollverein kuratierte, auf Empfehlung von Kasper König ein Gutachten mit dem Inhalt, das ehemalige Industrieareal zum Zentrum für zeitgenössische Kunst zu profilieren. 2001 wurden in den Teilausstellungen Arbeit, Freizeit und Angst Werke von 26 internationalen KünstlerInnen ausgestellt, die neue gesellschaftliche Kommunikationsprozesse initiieren sollten. Die Ausstellung, die in drei Etappen auch ihre Entstehungsgeschichte transparent machte, wurde begleitet von Diskussionsveranstaltungen zu den Themenfeldern "Geschichtskultur", "Bitterfelder Weg", "Existenzgeld" und "Rechtsradikalismus". Im Jahresprojekt 2002 Campus wurde dann eine weitere gesellschaftspolitisch brisante Frage thematisiert: Bildungspolitik bzw. Wissensproduktion. Im Jahresprojekt 2003 Die Offene Stadt: Anwendungsmodelle wurde in künstlerischen und diskursiven Projekten die Auseinandersetzung mit "Öffentlichkeit" und den Orten ihres Entstehens und Wirkens geführt. Das Gelände der ehemaligen Industrieanlage der Kokerei Zollverein eignete sich aufgrund seiner Geschichte und seiner sinnfälligen Bedeutung für eine zukunftsgerichtete Neunutzung in idealer Weise für ein Projekt, in dessen Mittelpunkt das Entwickeln neuer Wege und Modelle der Vermittlung von Wissen, politischer Mündigkeit und Subjektivität stand.
Die Kokerei Zollverein wurde in den Jahren 1959-61 errichtet und war bis 1993 in Betrieb. Nach Plänen der Bauhaus-Architekten Fritz Schupp und Martin Kremmer entstand eine technisch wie gestalterisch markante Architektur: Kubische Formen und Stahlfachwerkkonstruktionen bilden eine nüchtern-imposante Synthese. Die Kokerei Zollverein zählte zu den modernsten Anlagen Europas. An der 600 Meter langen Koksofenbatterie mit ihren 304 Öfen arbeiteten bis zu 1.000 Menschen. Sie produzierten täglich auf der so genannten "Schwarzen Seite" aus 10.000 Tonnen Kohle 8.600 Tonnen Koks für die Stahlindustrie. Nebenprodukte wie Rohbenzol, Teer und Ammoniak wurden auf der "Weißen Seite" weiterverarbeitet. Die Kokerei wurde 1993 stillgelegt, weil einerseits die Stahlindustrie in die Krise geriet und die Koksnachfrage stetig sank und andererseits die Koksproduktion zu teuer wurde. Die gesamte Anlage gehört seit Dezember 2001 zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Das ursprünglich bis auf das Jahr 2005 angelegte Konzept des Projekts Kokerei Zollverein | Zeitgenössische Kunst und Kritik sah vor, einen Produktionsort zu schaffen, an dem sich die Bildende Kunst - unter Berücksichtigung von Industrie- und Sozialgeschichte - mit gesellschaftsrelevanten Fragen auseinandersetzt. Dabei sollte das jeweilige Jahresprogramm nicht nur unter einem anderen thematischen Schwerpunkt stehen, sondern auch jeweils ein anderes, das heißt adäquates Präsentations- und Vermittlungsmodell hervorbringen.
Theoriepraxis
Kritische Praxis - sei es im gesellschaftspolitischen oder im künstlerischen Feld - hat seit den 1980er Jahren stark abgenommen. Das Projekt Kokerei Zollverein | Zeitgenössische Kunst und Kritik begreift kritische Praxis nicht als Legitimitätslieferantin für einen neuen Ort, an dem die notorisch Unzufriedenen und Randständigen Sprechmacht erhalten sollen. Foucault hat einen Kritikbegriff dargelegt, der auf die Analyse der Macht und ihrer sozialen Kontrollmechanismen bezogen ist und sich dabei im hohen Maße selber misstraut. Denn wo Kritik sich versteift und instrumentell wird, kippt sie in Selbstdisziplinierung um.
Adorno könnte ein weiterer Bezugspunkt sein, insbesondere seine späten politischen Fragmente, worin er die fatalen Auswirkungen einer Tabuisierung der politischen Kritik in Deutschland seit der Reichsgründung 1871 analysiert. Die Abwehr der Kritik in Deutschland, so Adorno, speise sich aus einem aggressiven, institutionell verwobenen Geist des Militarismus, der die zivilen Bereiche der Gesellschaft beherrschen will. Dagegen setzt Adorno einen Begriff der politischen Mündigkeit, deren Motor die politische Kritik sei.
Eine Betrachtung der Geschichte der Gegenkultur seit den 1960er Jahren zeigt, dass es für die Nachfolgegeneration der sozialen Bewegungen Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre ein großes Theorie-Praxis-Distinktionsproblem gab: Für die sich zersplitternden Praxisinteressen konnte kein übergreifendes theoretisches Modell konstruiert werden. Das hat zu einer Entpolitisierung der Jugendkultur und überhaupt des politischen Lebens geführt. Was ist heutzutage politische Öffentlichkeit? Und wo findet sie statt? Die Popkultur hat die Frage nach der politischen Öffentlichkeit zunehmend überdeckt, sie sich untertan gemacht und visuell versklavt. Es findet eine schleichende Form von politischer Analphabetisierung in der Gesellschaft statt. Das Gesamtprojekt Kokerei Zollverein | Zeitgenössische Kunst und Kritik versuchte stattdessen das, was als Praxis erscheint - seien es politische Veranstaltungen, Ausstellungen, HipHop-Workshops oder Culture Jamming-Seminare - nicht auf eine theoretische Matrix zu reduzieren, sondern zu einer kritischen Praxis des Sehens, des Denkens und des Handelns zu erweitern.
Analyse, Gegenmodell, Aufmerksamkeitsökonomie
Die Analyse schließt nicht zwangsläufig die erschöpfende Beantwortung der Fragestellung ein, die Analyse kann auch an einem Punkt innehalten, wo das Projekt die Antwort vor Ort eruiert. Innerhalb unserer warenförmigen Bildkultur ist es schwierig, Gegenmodelle überhaupt vorstellbar zu machen. Unser Sehen und Denken sind derartig kolonisiert, dass die Auslöschung dieser heteronomen Determinierung eine gewisse Anstrengung erfordert. Für den kritischen Umgang mit visuellen wie auch textuell basierten Wissensformen stellte die Kokerei Zollverein | Zeitgenössische Kunst und Kritik ein Display für Wissensproduktion zur Verfügung.
Die Chance ist gegeben, mit einem im kulturellen Feld eingeschleusten politischen Projekt unter bestimmten Umständen eine höhere Aufmerksamkeit zu erzielen als direkt im politischen Feld. Dass diese Praxis im Kulturbetrieb zu Inkorporierungen geführt hat, dass aus politischen Aktivisten "Politkünstler" wurden, sie somit auf einen Stilbegriff reduziert wurden, ist ein historisches Dilemma, aus dem Konsequenzen gezogen werden müssen. Im historischen Rückblick erscheint der Versuch, die Form des politischen Postulats, nämlich die politische Praxis rigoros an einem Ideal auszurichten, ideologisch überfrachtet. Es ist ebenso legitim, sich in politische Felder zu begeben und dort infiltrierend zu agieren, wie auch zu versuchen, im Feld der Kultur eine Situation oder Realität zu schaffen, die eine kritische Öffentlichkeit herzustellen vermag. Beide Ansätze nicht gegeneinander auszuspielen, sondern vielmehr aufeinander zu beziehen, ist eine erste Konsequenz aus dem Theorie-Praxis-Dilemma.
In die Realität eingreifen
Die Kokerei Zollverein | Zeitgenössische Kunst und Kritik definierte sich als einen durch Theorie und Praxis verklammerten Produktionsort mit einem von bildnerisch-sozialer Verantwortung geprägten Aufgabengebiet zur Rückeroberung der Subjektivität. Die Neukonstruktion des Subjekts zum informatischen Schaltkreis der Neuen Ökonomie sollte in Frage gestellt, die Umwandlung von Kommunikation in eine Dienstleistung durchbrochen werden, Alternativen zur Content-Industrie sollten formuliert werden. Kritische künstlerische und kunstvermittelnde Praxis war hier eine durch historische Aufarbeitung und zeitrelevante Rekombination bestimmte Methode, um Zusammenhänge zwischen politischer Praxis und kultureller Darstellung bzw. Repräsentation aufzuzeigen und, ein Wort Toni Negris aufgreifend, um in die Realität einzugreifen.
Nach dreijährigem Bestehen wurde das vertraglich auf fünf Jahre garantierte Kunstprojekt Kokerei Zollverein | Zeitgenössische Kunst und Kritik zum 31. Dezember 2003 überraschend gekündigt. Trotz vorhandener Förderung für das Jahresprogramm 2004 "Ramp" durch die Kulturstiftung des Bundes wird das Gesamtprojekt nicht fortgesetzt. Der bisherige Träger - die Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur - kündigte die Verträge der MitarbeiterInnen zum Jahresende 2003. Grundlage dafür sei eine Vorgabe des Ministeriums für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen, die eine Gesamtkoordination aller Projekte auf Zollverein durch die Entwicklungsgesellschaft Zollverein (EGZ) ab 2004 vorsehe. Verhandlungen bezüglich einer Co-Finanzierung des Projekts "Zeitgenössische Kunst und Kritik" durch die EGZ scheiterten.
Es bleibt dabei: Verluste werden nach wie vor vergesellschaftet und Gewinne privatisiert.