Der italienische
Philosoph Paolo Virno formuliert in seiner 2005 auf Deutsch erschienenen
Schrift „Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit,
Intellekt und Arbeit“[1]
folgende These: „Ich bin überzeugt, dass in den Lebensformen wie auch in den
Produktionsweisen der Gegenwart (…) direkt wahrgenommen wird, dass die
Begriffspaare öffentlich/privat und kollektiv/individuell nicht mehr tragen,
keinen Biss mehr haben, auseinander brechen.“[2]
Das Phänomen, an dem Virno die Ununterscheidbarkeit von kollektiver und individueller
ebenso wie öffentlicher und privater Erfahrung untersucht, sind aktuelle
„postfordistische“ Produktionsweisen. Darunter versteht er mehr als Arbeit im
traditionellen Sinne, also als herstellende produktive Tätigkeit, sondern, wie
er sagt, „das Zusammenwirken verschiedener Lebensformen“[3].
Es geht ihm um das Hegemonial-Werden von Produktionsweisen, die auf
kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten basieren, auf hoher Flexibilität beim
Einsatz der Arbeitskraft, also dem permanenten Reagieren auf Unvorhergesehenes.
Bei solchen Produktionsweisen wird die gesamte Person, besser: Persönlichkeit,
ihr Intellekt, ihr Denken, ihr Sprachvermögen, ihre Affekte gefordert. Das
führt Virno zufolge zu einem Ende von Arbeitsteilungen (im Sinne der Aufteilung
der Arbeit) und zu erheblichen persönlichen Abhängigkeiten; nun allerdings
weniger von Regeln und Vorschriften, sondern von einzelnen Personen im
Arbeitsverhältnis (52f.), aber auch im Zusammenhang von Netzwerken, um
gegebenenfalls an den nächsten Job zu kommen. Geben wir diesen Lebens- und
Arbeitsverhältnissen den Namen „Prekarisierung“. Im Folgenden soll jedoch, im
Unterschied zu Virno, der Begriff der „VirtuosInnen“ nicht für all die sehr
unterschiedlichen prekären Verhältnisse eingesetzt werden, sondern nur für
KulturproduzentInnen[4],
deren Funktion allerdings weder Avantgarde noch Paradigma für alle Prekären
ist.
Die Implosion der sozioökonomischen
Sphären von privat und öffentlich, von Individuellem und Kollektivem beschreibt
Virno in Relation zur Aristotelischen Dreiteilung menschlicher Erfahrung in
Arbeit (poiesis), Denken / Intellekt
(Leben des Geistes) und politisches
Handeln (praxis) (61). Trotz gelegentlicher
Überschneidungsmöglichkeiten würden die drei Bereiche bis heute meist
voneinander getrennt vorgestellt: Arbeit bedeutet in diesem Schema die
Produktion neuer Objekte in einem sich wiederholenden, vorhersehbaren Prozess.
Dem entgegengesetzt ist der zweite Bereich, der des Intellekts, seinem Wesen
nach Vereinzelung und unsichtbar, da sich die Meditation der DenkerIn dem Blick
der Anderen entzieht. Der dritte Bereich menschlicher Erfahrung schließlich,
der des politischen Handelns, wirkt auf soziale Beziehungen ein und ist von der
Sphäre der Arbeit, die durch Wiederholungsprozesse auf natürliche Materialien
einwirkt, unterschieden. Bemerkenswert dabei ist, dass das politische Handeln
in diesem Verständnis mit dem Möglichen und dem Unvorhergesehenen zu tun hat:
es produziert keine Objekte, sondern verändert durch Kommunikation. (62f.) Nur
das politische Handeln gilt in dieser Einteilung als öffentlich, denn es
bedeutet, um mit Hannah Arendt zu sprechen, das „den Blicken der Anderen
Ausgesetztsein“.[5]
Trotz vielfacher Kritik an der Unangemessenheit dieses aristotelischen Modells für die Gegenwart findet diese Dreiteilung von Arbeit, Intellekt und politischem Handeln bis heute weite Verbreitung. Dies ist Virno zufolge nicht zuletzt auf den großen Einfluss Hannah Arendts zurückzuführen. Doch auch Arendt spricht von Ununterscheidbarkeiten zwischen den drei Bereichen – interessanterweise ebenso wie Virno im Zusammenhang mit Virtuosität, das heißt mit Kreativität in einem bestimmten Sinn. In ihrem Buch Zwischen Vergangenheit und Zukunft vergleicht sie die ausführenden KünstlerInnen, die VirtuosInnen, mit denjenigen, die politisch aktiv sind, also in ihrem Verständnis politisch handeln, sich den Blicken der Anderen aussetzen. (67) Denn bei diesen darstellenden KünstlerInnen liege, wie Arendt schreibt, „die Leistung im Vollzug selbst (…) und nicht in einem die Tätigkeit überdauernden und von ihr unabhängig bestehenden Endprodukt. (…) Genau so, wie das Musizieren oder das Tanzen oder das Theaterspielen für die Entfaltung ihrer Virtuosität auf ein Publikum angewiesen sind, das dem Vollzug beiwohnt, bedarf auch das Handeln der Präsenz anderer in einem (…) politisch organisierten Raum … .“[6]
Für Arendt ist Politik demnach eine Kunst der Darstellung, eine performative Kunst. Wegen des notwendigen Publikums, des „sich den Blicken anderer Aussetzens“ brauchen sowohl Politik als auch Virtuosität einen so genannten „Erscheinungsraum“. Und, so Arendt, „[w]as immer in diesem Erscheinungsraum vor sich geht, ist politisch per definitionem, auch wenn es mit Handeln direkt nichts zu tun hat.“[7] Mit diesem Zusatz „auch wenn es mit Handeln direkt nichts zu tun hat“, so lässt sich folgern, ist „jede Virtuosität wesentlich politisch“ (67)[8].
Direkt nachdem sie die Verwobenheit von Virtuosität und Politik hervorgehoben hat, spricht Arendt in diesem Text in emphatischem Sinne von Freiheit. Darauf bezieht sich Virno allerdings nicht. Dieser Nexus von Virtuosität und Politik zur Freiheit scheint mir jedoch ein zentraler Punkt zu sein.
Der Erscheinungsraum
nämlich, der politisch-öffentliche Bereich – und Arendt hat immer die
griechische Polis vor Augen -, ist der Ort, „an dem Freiheit sich manifestieren
(…) kann“.[9]
„Ohne einen solchen eigens für sie gegründeten und eingerichteten Raum kann Freiheit
sich nicht verwirklichen. Freiheit ohne Politik gibt es eigentlich nicht, weil
sie gar keinen Bestand hätte.“[10]
Diesen Freiheitsbegriff unterscheidet Arendt von dem der Gedanken- und der
Willensfreiheit. Vor allem letztere ist für sie eine egozentrische Last des
Christentums. Ihr geht es dagegen um eine politische Freiheit, die sich vom
Privaten, von der „Sorge um das Leben“[11]
gelöst hat und abgrenzt: um eine Freiheit im Öffentlichen, eine des Handeln-Könnens,
nicht des Wollens und des Denkens.[12]
Willensfreiheit ist in ihren Augen eine unpolitische Freiheit, weil sie „mit
sich selbst erfahrbar“ und von „den Vielen unabhängig“ ist.[13]
Kommen wir zurück zu
Virno, der sich, um die aktuellen prekären Produktionsweisen und Lebensformen zu
erklären, neben Arendt auch auf Marx bezieht. Der wiederum erkenne die Tätigkeit
darstellender KünstlerInnnen (worunter er Lehrer, Ärzte, Schauspieler, Redner
und Pfarrer fasst) in seiner Perspektive nur als „Arbeit ohne Werk“ an, und
stelle sie in eine Analogie zu Dienstbotentätigkeiten. Folglich produzierten in
Marx’ Verständnis weder solche VirtuosInnen noch das Dienstpersonal einen
Mehrwert. Beide gehörten für ihn zum „Bereich der unproduktiven Tätigkeit“
(69). Doch ist Marx nicht der Vorwurf zu machen, er habe KulturproduzentInnen
generell in den Bereich unproduktiver Arbeit verbannt. Denn er macht den
Unterschied zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit nicht am Inhalt einer
Arbeit fest. Vielmehr sei „productive
Arbeit zu sein eine Bestimmung der Arbeit, die absolut nichts zu thun hat
mit dem bestimmten Inhalt der Arbeit,
ihrer besondren Nützlichkeit oder dem eigenthümlichen Gebrauchswerth, worin sie
sich darstellt“.[14] Produktive
Arbeit definiert Marx vielmehr über ein Verhältnis: nicht jedoch eines zu Geld
im Allgemeinen und der Frage, ob eine Tätigkeit entlohnt oder unentgeltlich
verrichtet wird. Das Verhältnis, das produktive Arbeit konstituiert, ist für
Marx allein das zum Kapital. „Productive Arbeit tauscht sich direkt mit Geld als Capital aus“ und ist folglich
eine, die „die von ihr geschaffenen Werthe dem Arbeiter selbst als Capital gegenübersetzt“[15].
Die Dienstleistung eines Arztes wie die einer Köchin bedeutet dagegen einen
Tausch von „Arbeit gegen Geld als Geld“[16]
und gilt deshalb nicht als produktiv. Den Unterschied zwischen beiden
Tauschverhältnissen von Arbeit verdeutlicht auch Marx schließlich am Beispiel
einer Virtuosin: „Eine Sängerin, die wie der Vogel singt, ist ein unproductiver
Arbeiter. Wenn sie ihren Gesang für Geld verkauft, ist sie sofern Lohnarbeiter
oder Waarenhändler. Aber dieselbe Sängerin, von einem entrepreneur engagiert,
der sie singen lässt um Geld zu machen, ist ein productiver Arbeiter, denn sie produciert
direkt Capital.“[17]
Was aber, wenn die Sängerin zur Unternehmerin ihrer selbst wird? Implodiert dann das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital in ihr selbst? Ist sie in Marx’ Denken als ‚unproduktiv’ zu bezeichnen, wenn sie in ihrer künstlerischen Selbständigkeit, ihren zeitlichen begrenzten Projekten nicht mehr ihre Stimme allein zu Markte trägt, sondern sich ständig mit ihrer gesamten Persönlichkeit verkauft, wenn ein Singen „wie der Vogel“, der Akquise des nächsten Jobs dient? Stehen KulturproduzentInnen heute, als gleichzeitig Dienstleistende, ProduzentInnen und Entrepreneurs ihrer selbst, nicht in den von ihnen geschaffenen Werten immer auch sich selbst als kapitalisierte Lebensform gegenüber, ähnlich und zugleich vollkommenen anders als das Verhältnis, das Marx als „productive Arbeit“ definiert hat?
Auch Virno schlussfolgert, dass im Postfordismus, in Zeiten des kognitiven Kapitalismus[18]weder die Zuordnungen von Arendt weiterhin zutreffend sind noch Marx’ Instrumentarium offenkundig ausreichend erscheint, um gegenwärtige Produktions- und damit verbundene Lebensweisen zu verstehen.
Denn diese spitzen
sich zu neuen Verhältnissen zu, in denen „die produktive Arbeit in ihrer Gesamtheit sich die besonderen
Wesenszüge der künstlerischen, darstellenden Tätigkeit zueigen gemacht hat. Wer
im Postfordismus Mehrwert produziert, verhält sich – von einem strukturellen
Gesichtspunkt aus gesehen, versteht sich – wie eine PianistIn, eine TänzerIn
usw.“ Virtuosität strukturiert, anders als Arendt es formulierte, heute somit
nicht mehr nur das politische Handeln, sondern zunehmend neue immaterielle, auf
einem weiten Begriff von Kreativität basierende Arbeitsverhältnisse, die keineswegs als „unproduktiv“ zu verstehen
sind. Vor dem Hintergrund des dreigeteilten Modells von Aristoteles und Arendt
bedeutet die zunehmende Ununterscheidbarkeit von produktiver Arbeit und
immaterieller, kreativer Tätigkeit, dass solch eine VirtuosIn sich „infolgedessen wie ein politischer
Mensch“ verhält (70). Das bedeutet, dass offenbar weder die Trennung in poiesis, Intellekt und politische praxis weiterhin aufrechtzuerhalten ist,
noch Marx’ Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit. Eine
solche Feststellung von „Ununterscheidbarkeit“ ist jedoch weniger im Sinne
Giorgio Agambens als Katastrophenszenario zu verstehen, denn als Notwendigkeit,
zutreffendere analytische und politische Begrifflichkeiten zu entwickeln.
Bleiben wir bei
Virnos These, dass die kreativ Arbeitenden die im klassischen Sinn politischen
Menschen sind, da ihre Arbeit „die traditionellen Eigenschaften des politischen
Handelns angenommen“ hat (64). Dies meint indes nicht, dass aufgrund
zunehmender virtuoser Lebens- und Arbeitsverhältnisse eine gesteigerte
Politisierung zu verzeichnen wäre. Im Gegenteil offenbart sich gegenwärtig eher
eine „Krise der Politik“ (64). Sind doch postfordistischen Arbeitsverhältnissen
längst alles Reizvolle der Politik inhärent, und in Folge dessen die Subjekte
darin nicht über-, sondern
„entpolitisiert“ (65). In dem Maße wiederum, in dem sich die Subjekte
entpolitisieren, wird die „zeitgenössische Produktion ‚virtuos’ (und deshalb
politisch)“ (73). Dann also, wenn Arbeit häufig zur Wissens- und
Dienstleistungsarbeit und zugleich zum Mittel eines Selbst-UnternehmerInnentums
transformiert, fällt der Intellekt verstärkt mit dem Bereich der Arbeit zusammen,
der wiederum nicht mehr von dem der klassischen politischen praxis zu unterscheiden ist. Wenn aber
die Arbeit dergestalt politisch wird, dann verändert sich auch die klassische
Sphäre des politischen Handelns: die Öffentlichkeit. Diese entsteht dann ständig
als virtuose, mit anderen Worten: Es findet eine permanente Re-Kreation des
öffentlichen Raums statt. Denn das für den Arendtschen Öffentlichkeitsbegriff
grundlegende „sich den Blicken der anderen Aussetzen“ hat sich zu einem der
entscheidenden Merkmale virtuoser Arbeits- und Lebensverhältnisse entwickelt.
Die „Präsenz des Anderen“ ist sowohl Instrument als auch Objekt der Arbeit
geworden. Überdies basieren, Virno zufolge, aktuelle Produktions- und
Lebensweisen in ihrer politischen Virtuosität auf der Kunst des Möglichen und
dem Umgang mit dem Unvorhersehbaren.[19]
Was dies wiederum für die immer unmöglicher werdenden Grenzziehungen zwischen öffentlich und privat wie zwischen Produktion und Reproduktion bedeuten kann, möchte ich im Folgenden am Beispiel von bestimmten KulturproduzentInnen erläutern, an jenen nämlich, denen prekäre Lebens- und Arbeitsverhältnisse nicht nur aufgezwungen werden, sondern die sie durchaus begehren und vor allem als freie und autonome Entscheidung verstehen.[20]
Solche VirtuosInnen,
die ich im Folgenden meine, sind in keiner Weise auf das künstlerische Feld
beschränkt. Darunter fallen beispielsweise auch WissenschaftlerInnen oder
Medienschaffende. Sie gehen äußerst unterschiedlichen, ungleich bezahlten
Projekttätigkeiten und Honorarjobs nach und verstehen sich durchaus auch als
gesellschaftskritisch. Manchmal wollen sie gar keinen festen Job, manchmal
wissen sie, dass sie davon nur träumen können. Dennoch gehen jene
KulturproduzentInnen, die ich hier meine, davon aus, dass sie ihre Lebens- und
Arbeitsverhältnisse selbst gewählt haben, gerade um relativ frei und autonom
ihre größtmögliche Entfaltungen zu gewährleisten. Bei solchen VirtuosInnen
spreche ich von Selbst-Prekarisierung.
Die Anrufung zur Selbstgestaltung gehört zu einer
elementaren Regierungstechnologie moderner Gesellschaften und ist kein gänzlich
neues neoliberales oder postfordistisches Phänomen. Mit der Aufforderung, sich
am Normalen zu orientieren, mussten schon im Zuge der Moderne alle ein Verhältnis zu sich entwickeln, den eigenen Körper, das
eigene Leben kontrollieren, indem sie sich selbst regulierten und so selbst
führten. Untrennbar von dieser Selbst-Führung sind Ideen der Eigentlichkeit, der Authentizität. So
glauben wir bis heute beispielsweise, der Effekt von Machtverhältnissen sei das
Wesen unseres Selbst, unsere Wahrheit, unser eigener, eigentlicher Kern. Diese
normalisierende Selbst-Regierung basiert auf einer Imagination von Kohärenz,
von Einheitlichkeit und Ganzheit, die auf die Konstruktion eines männlichen,
weißen bürgerlichen Subjekts zurückgeht. Kohärenz wiederum ist eine der
Voraussetzungen moderner souveräner Subjekte. Derart imaginierte‚ innere,
natürliche Wahrheiten’, solche Konstruktionen von Eigentlichkeit nähren bis
heute Vorstellungen davon, sich selbst und sein Leben frei, autonom und nach
eigenen Entscheidungen gestalten zu können oder zu müssen. Solche
Machtverhältnisse sind auch deshalb nicht leicht wahrzunehmen, da sie häufig
als eigene, freie Entscheidung, als persönliche Einsicht daherkommen und bis
heute das Begehren danach produzieren, zu fragen ‚Wer bin ich?’ oder ‚Wie kann
ich mich selbst verwirklichen?’. Der im Zuge neoliberaler Umstrukturierungen so
häufig gebrauchte Begriff der „Eigenverantwortung“ funktioniert nur über diese
alte liberale Technik der Selbstregierung.
Im Grunde findet gouvernementale Selbstregierung, diese Souveränität auf Subjektebene, in einem scheinbaren Paradox statt. Denn diese moderne Selbstregierung bedeutet gleichzeitig Unterwerfung und Freiheit. Nur in dieser ambivalenten Struktur von Subjektivierung, die - in aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen – sowohl im Privaten wie im Bereich des Öffentlichen grundlegend war, sowohl in der Familie wie in der Fabrik oder der Politik, nur in dieser paradoxen Subjektivierung findet die Regierbarkeit moderner Subjekte statt. Selbst-Gestaltbarkeit wiederum war konstituierend für dieses vermeintliche Paradox zwischen Regulierung und Ermächtigung.
Diese normalisierte
souveräne männlich-weiße Subjektivierung brauchte im Liberalismus die
Konstruktion des anormalen und devianten Anderen, das heißt des
marginalisierten Prekären. Im Neoliberalismus verschiebt sich nun die Funktion
der Prekären hin in die gesellschaftliche Mitte und wird normalisiert. Damit
kann sich auch die Funktion der bürgerlichen Freiheit transformieren: weg von
der Abgrenzung vom prekären Anderen hin zur subjektivierenden Funktion in der
normalisierten Prekarisierung.
Aktuelle Lebens- und
Arbeitsverhältnisse verweisen nicht zuletzt auf eine Genealogie der sozialen
Bewegungen seit den 1960er Jahren. Die durchaus dissidenten Praktiken
alternativer Lebensweisen, die Wünsche nach anderen Körpern und Selbstverhältnissen
(in feministischen, ökologischen, linksradikalen Kontexten) wollten sich immer
auch vom Normalarbeitsverhältnis und den damit verbundenen Zwängen,
Disziplinierungen und Kontrollen abgrenzen. Generell war die bewusste, die
freiwillige Aufnahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse auch Ausdruck für ein
Bedürfnis, die moderne, patriarchale Aufteilung in Reproduktion und Lohnarbeit
zu überwinden.
In den vergangenen Jahren sind jedoch genau diese alternativen Lebens- und Arbeitsverhältnisse immer stärker ökonomisch verwertbar geworden, weil sie die Flexibilisierung begünstigten, die der Arbeitsmarkt forderte. So waren Praktiken und Diskurse sozialer Bewegungen in den vergangenen dreißig, vierzig Jahren nicht nur dissident und gegen Normalisierung gerichtet, sondern zugleich auch Teil der Transformation hin zu einer neoliberalen Ausformung von Gouvernementalität.
Auf der Ebene von
Subjektivierung wird gegenwärtig auf eine neue Weise offensichtlich, dass sich
alternative Lebens- und Arbeitsverhältnisse im Großen und Ganzen nicht von der
Struktur einer traditionellen, bürgerlich-weiß-männlichen Subjektivierungsweise
gelöst haben. Die Ambivalenz zwischen einer bestimmten bürgerlichen Idee von
Freiheit auf der einen und (Selbst-) Regulierung und Unterwerfung auf der
anderen Seite ist alles andere als überwunden.
Die derzeitigen
VirtuosInnen dieser Ambivalenz lassen sich mit ein paar Parametern weiter
beschreiben: Sie gehen befristeten Tätigkeiten nach, leben von Projekten und
Honorarjobs, von mehreren gleichzeitig und einem nach dem anderen, meist ohne
Kranken-, Urlaubs- und Arbeitslosengeld, ohne Kündigungsschutz, also ohne oder
mit minimalen sozialen Absicherungen. Meist sind sie kinderlos. Arbeit und Freizeit
lassen sich nicht mehr trennen. In der nicht bezahlten Zeit findet eine
Anhäufung von Wissen statt, welches wiederum nicht extra honoriert, aber
selbstverständlich in die bezahlte Arbeit eingebracht und abgerufen wird. Das
permanente Kommunizieren in Netzwerken ist überlebenswichtig. Nicht wenige von
ihnen verstehen sich als links und kapitalismuskritisch.
Die Praktiken, um die es hier geht, sind jedoch sowohl mit Begehren als auch mit Anpassung verbunden. Denn diese Existenzweisen werden immer wieder auch in vorauseilendem Gehorsam antizipiert und mitproduziert. Die nicht existierenden oder geringen Bezahlungen, im Kultur- oder Wissenschaftsbetrieb zum Beispiel, werden allzu häufig als unveränderbare Tatsache hingenommen, anderes wird gar nicht erst eingefordert. Verhältnisse von Ungleichheit werden oft nicht wahrgenommen. Die Notwendigkeit, anderen, weniger kreativen, prekären Beschäftigungen nachzugehen, um sich das eigene Produzieren finanzieren zu können, wird hingenommen. Diese erzwungene und gleichzeitig selbst gewählte Finanzierung des eigenen kreativen Schaffens stützt und reproduziert genau die Verhältnisse immer wieder, unter denen man leidet und deren Teil man zugleich sein will. Vielleicht sind die kreativ Arbeitenden, diese selbst gewählt prekarisierten VirtuosInnen deshalb so gut ausbeutbare Subjekte, weil sie ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse wegen des Glaubens an die eigenen Freiheiten und Autonomien, wegen der Selbstverwirklichungsphantasien scheinbar unendlich ertragen. Sie sind in einem neoliberalen Kontext dermaßen ausbeutbar, dass sie mittlerweile nicht mehr nur von staatlicher Seite als Prototypen für neue Lebens- und Arbeitsweisen angeführt werden.
Mit dieser Selbst-Prekarisierung sind meist Erfahrungen von Angst und Kontrollverlust verbunden, Gefühle von Verunsicherung, sowie Angst vor und die Erfahrung von Scheitern, sozialem Abstieg und Armut. Auch deshalb sind ‚Loslassen’ oder Formen des Ausstiegs und Abfallens vom hegemonialen Paradigma schwierig. Man muss ‚on speed’ bleiben, sonst könnte man raus fallen. Die Bedrohung sitzt immer im Nacken. Klare Zeiten für Entspannung und Erholung gibt es nicht. Das Begehren nach Entspannung, danach, ‚zu sich selbst zu kommen’ wird unstillbar. Derart reproduktive Praktiken müssen meist neu erlernt werden. Sie entbehren jeder Selbstverständlichkeit und müssen gegen sich und andere hart erkämpft werden. Das macht diese Sehnsucht nach Reproduktion, nach Regeneration wiederum so überaus vermarktbar.
Im gegenwärtigen Kontext von prekärer, weitgehend immaterieller, meist individualisierter Arbeit und ebensolchem ‚Leben’ verändert sich folglich die Funktion von Reproduktion. Sie wird nicht mehr nur auf andere, vornehmlich Frauen ausgelagert. Individuelle Reproduktion und Generativität, die Produktion des Lebens individualisiert und verlagert sich nun zum Teil „in“ die Subjekte selbst hinein. Es geht um Regeneration jenseits von Arbeit, auch durch Arbeit, aber immer noch sehr häufig jenseits von angemessen bezahlter Lohnarbeit. Es geht um (Selbst-)Erneuerung, Aus-sich-selbst-Schöpfen, sich selbst aus eigener Kraft wieder herstellen: eigenverantwortlich. Die Selbstverwirklichung wird zur reproduktiven Aufgabe für das Selbst. Arbeit soll die Reproduktion des Selbst gewährleisten.
Im Anschluss an Virno lässt sich daraus folgern, dass die Trennung von öffentlich und privat nicht nur in einer neuen entpolitisierten Öffentlichkeit, einem „Öffentlichsein ohne Öffentlichkeit“ implodiert. Diese Implosion wird verstärkt durch eine weitere: die von Produktion und Reproduktion in den beschriebenen Subjektivierungsweisen. Parallel dazu bestehen gleichzeitig die traditionellen gesellschaftlichen und ökonomischen Bereiche mitsamt geschlechtsspezifischer Segmentierung weiter.
Diese Subjektivierung, die sich strukturell kaum nach Geschlecht unterscheiden lässt,[21] findet durch die Implosionen offensichtlich in einem Widerspruch statt: in der Gleichzeitigkeit von Prekarisierung zum einen – verbunden mit Angst, dem Gefühl von Schutzlosigkeit und Fragmentierung - und auf der anderen Seite von Kontinuität von Souveränität. Diese Kontinuität moderner souveräner Subjektivierung findet durch die Stilisierung von Selbstverwirklichung, Autonomie und Freiheit, durch Selbstgestaltung, Selbstverantwortung und die Wiederholung der Idee von Eigentlichkeit statt. Generell scheint diese Souveränität in erster Linie auf der ‚freien’ Entscheidung zur Selbst-Prekarisierung zu beruhen.
Das wiederum könnte ein zentraler Grund dafür sein, dass die strukturelle Prekarisierung als tendenziell gesamtgesellschaftliches, neoliberal gouvernementales Phänomen, dem kaum eine freie Entscheidung zugrunde liegt, derart schwer gesehen werden kann, Kritik daran noch kaum zu hören ist und Gegen-Verhalten weitgehend ausbleibt. In diesem Fall ist die neue Öffentlichkeit ein Raum des Opportunismus und der Konformität.
Sogar mit Hannah
Arendt, deren Analysen für die aktuellen ökonomischen und sozialen
Transformationsprozesse offenbar kaum noch Relevanz zu haben scheinen, lassen
sich die hier angeführten Phantasien von selbst-gewählter Freiheit und
Autonomie kritisieren. Diese kommen nämlich Arendts Begriff von „Willensfreiheit“
und dessen Gegensatz von „politischer Freiheit“ sehr nahe. Denn wenn sich „das
Ideal des Freiseins (…) vom Handeln-Können auf das Wollen verschoben hat,“ kann
es „nicht mehr die Virtuosität des Mit-einander-zusammen Handelns sein, das
Ideal wurde vielmehr die Souveränität, die Unabhängigkeit von allen anderen und
gegebenenfalls das Sich-Durchsetzen gegen sie“.[22]
Politische Freiheit funktioniere jedoch nur „unter der Bedingung der
Nicht-Souveränität“[23].
Statt die eigenen
Involviertheiten im Kontext von Prekarisierung zu reflektieren, werden nicht selten
gerade in linken Zusammenhängen Diskussionen darum geführt, wer noch dazu
gehört und wer nicht mehr, wer luxus- und wer armutsprekär ist. Noch immer
scheint es unabdingbar, zunächst das betroffene, zu politisierende Kollektiv
festmachen zu müssen, welches meistens in irgendeiner Weise die anderen sind.
Ich denke allerdings, solange die eigenen Selbst-Prekarisierungen, die
Phantasien darüber, sich ohnehin jenseits des Mainstreams, Bürgertums oder wo
auch immer zu bewegen, weil gerade in der jeweiligen Nische die eigenen
Vorstellungen von Freiheit und Autonomie lebbar seien, kann weder theoretisch
noch politisch verstanden werden, wie durch die selbst-gewählten Lebens- und
Arbeitsverhältnisse eine strukturell optimal regierbare Subjektivierung
entsteht, was nichts anderes bedeutet, als eine gewählte Unterwerfung unter
neoliberal gouvernementale Regierungsformen.
Folgt man Virnos Implosionsthese der aristotelisch-arendtschen Dreiteilung, dann muss auch eine Krise linker Politik thematisiert werden. Stellt sich dann nicht die Frage, ob durch unreflektierte Selbst-Prekarisierung zwar unentwegt neue Öffentlichkeiten entstehen und sogar die Trennungen von privat und öffentlich, von Arbeit und Reproduktion in der eigenen Subjektivierung aufgelöst werden, aber gerade dadurch, wie Virno sagt, entpolitisierte Subjekte entstehen?
Erschienen
In: Grundrisse. Nr. 23/2007, S. 4-10.
In: Claudio Altenhain, Anja Danilina, Erik Hildebrandt, Stefan Kausch,
Annekathrin Müller, Tobias Roscher (Hg.): Von „Neuer Unterschicht“ und
Prekariat. Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische
Perspektiven auf aktuelle Debatten. Bielefeld: transcript 2008.
[1] So lautet der Untertitel der Übersetzung von Klaus Neundlinger bei Turia + Kant, Wien 2005, der besser zu diesem Text passt, als der von Thomas Atzert beim ID-Verlag: “Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen“, Berlin 2005.
[2] Virno. Grammatik. Berlin, 12 (Wien, 30).
[3] Virno. Grammatik. Wien, 61. Im Folgenden wird die Seitenzahl der Wiener Ausgabe im Text angegeben.
[4] KulturproduzentInnen’ wird hier als paradoxe Bezeichnung verstanden. Sie verweist auf eine Imagination der bezeichneten Subjekte, nämlich die des eigenen Produzierens und des Gestaltens des Eigenen. Gleichzeitig aber geht es darum, dass diese Subjektivierungsweisen Instrumente des Regierens, mithin funktionale Effekte biopolitisch gouvernementaler Gesellschaften der abendländischen Moderne sind. Deshalb hat ‚KulturproduzentInnen’ eine widersprüchliche, nicht kohärente Bedeutung. Bei 'KulturproduzentInnen' geht es nicht in erster Linie um KünstlerInnen. Siehe hierzu ausführlicher: Isabell Lorey: Gouvernementalität und Selbst-Prekarisierung. Zur Normalisierung von KulturproduzentInnen. In: transversal. „Maschinen und Subjektivierung“. 11/2006, Fn 1. <http://eipcp.net/transversal/1106/lorey/de>
[5] Hannah Arendt: Vita Activa oder vom täglichen Leben [1958]. München: Piper 1981, 164 ff.
[6] Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken 1 [1968]. Hrsg. v. Ursula Ludz. München, Zürich: Piper 1994, 206 und 207.
[7] Ebd, 207.
[8] Um die darstellende künstlerische Tätigkeit als VirtuosIn zu entpolitisieren, muss man folglich bleibende, dauerhafte Produkte schaffen. Siehe das Glenn Gould-Beispiel von Virno.
[9] Arendt. Zwischen Vergangenheit, 207
[10] Ebd., 207f.
[11] Ebd., 208.
[12] Ebd., 208ff. insbes. 208, 212ff.
[13] Ebd., 212.
[14] Karl Marx: Productive und Unproductive Arbeit. In: Ders.: Ökonomische Manuskripte 1863-1867. MEGA II 4.1, Berlin: Dietz 1988, 108-117, 113. Ich danke Karl Reitter für diesen Hinweis.
[15] Ebd., 112.
[16] Ebd., 116.
[17] Ebd., 113.
[18] Antonella Corsani: Wissen und Arbeit im kognitiven Kapitalismus. Die Sackgassen der politischen Ökonomie. In: Thomas Atzert, Jost Müller (Hrsg.): Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität. Analysen und Diskussionen zu Empire. Münster: Westfälisches Dampfboot 2004, 156-174.
[19] Vgl. Paolo Virno: Virtuosity and Revolution. Online unter: http://makeworlds.org/node/34
[20] Siehe dazu ausführlicher Isabell Lorey: Vom immanenten Widerspruch zur hegemonialen Funktion. Biopolitische Gouvernementalität und Selbst-Prekarisierung von KulturproduzentInnen. In: Gerald Raunig. Ulf Wuggenig (Hg.): Kritik der Kreativität. Wien: Turia + Kant 2007, 121-136.
[21] Dies liegt sicherlich zu einem erheblichen Teil an der Kinderlosigkeit der hier beschriebenen VirtuosInnen. Ein Grund dafür ist ihre Prekarisierung trotz Selbstausbeutung und Selbstverwirklichungsphantasien. Sozial strukturierende Trennlinien verlaufen hier nicht signifikant entlang der Gender-Linie. Wie sich dies bei der „Zusatzbedingung Mutterschaft“ oder „immer noch mit Weiblichkeit verbundenen Care-Verpflichtungen“ ändert, dazu: G. Günter Voß, Cornelia Weiß: Ist der Arbeitskraftunternehmer weiblich? In: Karin Lohr, Hildegard Maria Nickel (Hg.): Subjektivierung von Arbeit. Riskante Chancen. Münster 2005, 65-91, hier 85. Zur neoliberalen Neufassung der Geschlechterverhältnisse zwischen „Re-Traditionalisierungstendenzen“ und „flexibilisierte[n] Geschlechterbilder[n]“ siehe Katharina Pühl, Birgit Sauer: Geschlechterverhältnisse im Neoliberalismus. Konstruktion, Transformation und feministisch-politische Perspektiven. In: Urte Helduser et al. (Hg.): under construction? Konstruktivistische Perspektiven in feministischer Theorie und Forschungspraxis. Frankfurt/M./New York: Campus 2004, 165-179, hier 175.
[22] Arendt. Zwischen Vergangenheit, 213.
[23] Ebd., 214.