Übersetzt von Birgit Mennel
Kultur und Wert
In England wie auch anderswo ist Kultur heute das Wundermittel, das mehr gibt, als es nimmt. Wie ein wunderliches Öl in einem Grimm’schen Märchen gibt diese magische Substanz unaufhörlich, sie schöpft und steigert den Wert für Staat und Privatpersonen gleichermaßen. Kultur wird als Modus der Wertproduktion postuliert: wegen ihrer die Wirtschaft ankurbelnden und Wohlstand generierenden Effekte; wegen ihrer Eigenschaft zur Regeneration im Zusammenhang mit der Steigerung der Immobilienpreise und der Einführung neuer, größtenteils auf Dienstleistung basierender Geschäftszweige; und schließlich wegen ihrer Leistungen als eine Art moralische Aufrüstung oder Gefühlstraining; eine Perspektive, die sich hinter dem Modell der „sozialen Inklusion“ verbirgt und wonach die Kultur entrechtete Gruppen ansprechen – bzw. herablassend mit ihnen sprechen – muss. Kultur wird wegen ihrer „wertschöpfenden“ Nebeneffekte instrumentalisiert. Um die maximalen Leistungen auszuschöpfen, muss das werterzeugende Ergebnis, die Kultur, industriell gefertigt werden. Demzufolge wird die „Kulturindustrie“, über die Adorno mit beißender Kritik schrieb, mit doppelter Kraft als „Kultur- und Kreativindustrien“ propagiert und als solche von verschiedensten Institutionen bekräftigt, von Regierungen bis zu suprastaatlichen Formen, von NGOs bis zu privaten Initiativen. Der Diskurs der „Kreativ- und Kulturindustrien“ durchdringt sowohl die nationale als auch die supranationale Ebene. Auf der supranationalen Ebene ist es die UNESCO, die sich selbst beschreibt als „ein Laboratorium von Ideen sowie als eine Instanz, die Standards für die Erarbeitung universeller Übereinkommen zu neuen ethischen Fragen setzt“, und die darauf besteht, dass die „Kulturindustrien“, die das Verlagswesen, Musik, audiovisuelle Technologien, Elektronik, Videospiele und das Internet umfassen, „Beschäftigung und Wohlstand schaffen“, „die Innovation im Produktions- und Vermarktungsprozess fördern“ und außerdem „eine wichtige Rolle spielen in der Förderung und Beibehaltung kultureller Vielfalt sowie in der Sicherstellung eines demokratischen Zugangs zu Kultur“.[1] Mit ihrem Beharren darauf, dass die Kulturindustrien „die Kreativität – das ‚Rohmaterial’, aus dem sie gemacht sind, nähren“, treibt die UNESCO das industrielle Gleichnis weiter voran. Kurz gesagt, sie „reichern Inhalte mit Wert an und generieren so Wert für die Individuen und die Gesellschaften“. Inhalte haben augenscheinlich keinen immanenten Wert, oder jedenfalls nicht genug Wert, ehe sie der Zauberstab der Industrie berührt. Darüber hinaus schaffen die Kreativindustrien auf geheimnisvolle Weise Werte – aus dem Nichts, aus ihnen selbst. Der Wert ist ein Geschenk der Industrie, nicht eine Qualität der Produkte selbst.
Viele kulturpolitische Dokumente verweisen auf den „kulturellen Wert“. In solchen Dokumenten wird Wert zu einem entwerteten Begriff, der lediglich aus einer quantitativen Perspektive wahrnehmbar ist, wie z.B. in BesucherInnenzahlen mit statistischen Aufschlüsselungen, die dazu dienen, die soziale Inklusion zu überwachen und Daten für AnzeigenkundInnen und SponsorInnen bereitzustellen. Solcherart wird der Wert ohne Umstände dem ökonomischen Wert untergeordnet. Der Wert, der wertvoller ist als alle anderen, ist ein ökonomischer. Der Bericht zum fünften Jahrestag der Tate Modern Gallery aus dem Jahr 2005 ist eines von mehreren tausend Beispielen dafür. Hier jubelt Chris Smith, der frühere Kulturminister der Regierung, über die magischen Fähigkeiten der Kultur für die Wertschöpfung, und erklärt, dass „sich die Kreativindustrien auf weit mehr als 100 Milliarden Pfund an ökonomischem Wert belaufen, mehr als eine Million Menschen beschäftigen und doppelt so schnell wachsen wie die Wachstumsrate der Ökonomie insgesamt“. [2] Die Vermarktbarkeit der Kultur muss sichergestellt werden: Kultur ist nur dann wertvoll, wenn sie etwas zur „Ökonomie“ beiträgt. Kultur ist quantitativ bestimmt – die grafischen Darstellungen der Weltimporte und -exporte von Kulturgütern auf der UNESCO-Website geben davon Zeugnis. Dies ist eine banale Feststellung. Selbstverständlich produziert eine Industrie in einer kapitalistischen Welt Waren. Diese besondere Industrie produziert jedoch auf verschiedene Weise Kunst als Ware. Der Erwerb von Kunst wird durch die Unterstützung gut gesponserter und vermarkteter Messen für „leistbare Kunst“ zur Ware; so wird das Eigentum an kleinen Kunstobjekten verallgemeinert. Das Erfahren von Kunst wird durch finanzielle Unterstützung von Ausstellungen durch Körperschaften zur Ware wie außerdem durch die Berechnungen des sozialen Nutzens durch EntscheidungsträgerInnen; ein Nutzen, der sich daraus ableitet, dass man der Kultur ausgesetzt wird. Die Kunstinstitution vermarktet sich selbst als Ware. Kunstgalerien werden als „gewinnorientierter“ Raum, in dem die Expertise der KunstarbeiterInnen an die Unternehmen und Ausbildungswesen vermietet wird, neu definiert; bei jeder Gelegenheit werden Handelswaren angeboten, bis hin zu Geschenkartikelläden und digitalen Reproduktionen zum Download. Tate ist in diesem Fall besonders innovativ, da hier B&Q, einem Einzelhändler für Haushaltsfarben und für Heimverschönerung, eine Lizenz für die strategisch entwickelte „Marke“ Tate Modern erteilt wurde. Ein anderes Joint-Venture der Tate Gallery ist jenes mit dem Telekommunikationsanbieter BT. Eigens dafür in Auftrag gegebene Kunstwerke, die als „limitierte Auflage“ die Kleintransporter von BT schmücken, bekräftigen die gemeinsame Argumentation, allen „Kunst zu bringen“, indem sie „Kunst buchstäblich auf die Straße bringen“.[3] So verstanden wird Kunst zu einer abstrakten Quantität, einem weiteren Produkt, wie baked beans; die Sprache der „limitierten Auflagen“ ahmt jedoch die der Kunst inhärente Exklusivität nach. Das ist Kunst als Ware, eine weitere Option im Supermarktregal, die zweckdienlich bis an die Haustür geliefert wird oder zumindest vorüber fährt. Kunst soll so eine besondere Substanz bleiben, ein lebenssteigernder Bonus, und zugleich soll sie dennoch auf „der Straße“ sein, also vollkommen zugänglich, völlig alltäglich, sodass sowohl ihre wie auch die Wohltaten, von denen behauptet wird, dass sie vom privaten Telefonnetzwerk der BT kommen, weitestgehend abgesetzt werden können.
Die Unternehmenspartnerschaft in der Kultur – wie etwa das public-private partnership im Gesundheitswesen, im Ausbildungssystem und im Transportwesen – ist ein Teil der désétatisation (Entstaatlichung), ein französischer Begriff, der sich zwischen „Privatisierung“ und dem öffentlichen Sektor in der Welt der Kulturversorgung situiert. Für die désétatisation ausschlaggebende Aspekte sind „die Zerschlagung“, die freie Übertragung von Eigentumsrechten, der Wechsel vom Staat zu unabhängigen Organisationen, die vertragliche Auslagerung von Reinigung und Catering, der Einsatz von Ehrenamtlichen, die private Finanzierung, die individuelle Schirmherrschaft sowie die finanzielle Unterstützung durch Unternehmen. Wie in anderen staatlichen Sektoren (z.B. Gesundheit und Energieversorgung) trennt diese Verlagerung in der Kulturpolitik die Kulturinstitutionen vom Staat und treibt sie dazu an, private Gelder anzuziehen. Die Privatisierung der Kunstwelt (in der das ökonomische Prinzip im Mittelpunkt steht) ist mit einer Dezentralisierung der Macht verbunden, die einiges an Autonomie und auch Rechenschaftspflicht gegenüber lokalen ManagerInnen mit sich bringt.
In einem für den Neoliberalismus typischen Paradox wurde die zunehmende Privatisierung sowie die Einbeziehung der privaten Industrie als Sponsor im Bereich der Kunst durch eine Abhängigkeit der Kultur von Regierungs- und Staatsinterventionen unter dem Namen Kulturpolitik begleitet. Die logische Folge privater wie insbesondere staatlicher „Kreativindustrien“ ist „Kulturpolitik“. Kulturproduktion ist heute eine wichtige Industrie in der globalen Schlacht um Tourismusgelder. Als solche unterliegt sie wie jede andere Industrie der Regierungspolitik. Die Kulturpolitik hat dasselbe Verhältnis zur Kulturkritik wie die Kulturindustrie zur Kultur. Sie ist ihre Kommodifizierung ohne Gegenmaßnahme. Die Rhetorik der meisten Kulturpolitik ist im besten Fall propagandistische heiße Luft oder tröstliche Kompensierung; im schlimmsten Fall ist sie eine Partnerin in der ökonomischen Umgestaltung der kulturellen Front, ähnlich der neoliberalen Restrukturierung der Volkswirtschaften durch den Internationalen Währungsfonds. Bemerkenswert ist, dass die Kulturpolitik durch dieselben Kräfte vorangetrieben wird, die sich einst in Kulturkritik übten, in Gestalt der Cultural Studies und ihrer Theorie. Wenn die Ideologie der Privatisierung die Industrialisierung der Kultur sowie ihre Aneignung der Produktion von monetären und anderen Werten benötigt hat, dann waren die KulturtheoretikerInnen willige IdeologInnen dieser Umfunktionierung.
Mehrwert: Theorie als Politik
Der weite Aufgabenbereich der Kulturpolitik reicht vom Banalen zum Fatalen. Dieser Rahmen hielt Tony Bennett, den führenden australischen Befürworter der Cultural Studies, nicht davon ab, im Jahr 1992 darauf zu beharren, dass die Cultural Studies sich zum Praktischen hinwenden und sich in der Politik engagieren sollten, indem sie ManagerInnen und Regierungen beraten, anstatt über ideologische Effekte zu jammern. Die anhaltende Förderung des kulturellen Populismus durch die Cultural Studies ging über in eine Rhetorik der Wahl, die sich selbst als anti-elitär präsentierte. Die Ironie dabei ist, dass die TheoretikerInnen, die einstmals erklärten, einer Art Marxismus anzuhängen, heute für die Kultur als das mildtätige und sich bessernde Antlitz des Kapitalismus werben. Wie konnte dies geschehen? Die Cultural Studies stellten einen Mangel in den marxistischen Kulturtheorien fest, der sie zunächst antrieb. Dem Theoretiker der Cultural Studies Stuart Hall zufolge sprach der Marxismus nicht über „unsere bevorzugten Untersuchungsobjekte“, „Kultur, Ideologie, Sprache, das Symbolische“, oder er schien sie nicht zu verstehen.[4] Man beachte, dass Kultur hier unter das Nichtgreifbare, das Immaterielle oder einfach unter das „Kognitive“ subsumiert wird. Die Arbeit, die Rolle der Produktion entwischt als theoretisierbarer Bestandteil der Praxis. Der Fokus auf Zielgruppen und die Konsumtion verstärkt diese Abneigung gegen die Produktionssphäre. Die Arbeit der Kulturproduktion verschwindet.
Kaum waren die Cultural Studies in „Hörweite“ des Marxismus, wie Hall dies nannte, spalteten sie sich schon. Ein Flügel steuerte auf eine Kultursoziologie zu, die in den populären kulturellen Praktiken zirkuliert. Der andere entschied sich für Stil, Oberfläche, Textualität und den Reiz der „Theorie“. In beiden Fällen verlagerte sich das Verständnis von Ideologie. Eine zunächst durch Althusser beeinflusste Auffassung der Ideologie und der ideologischen Staatsapparate begriff den Staat und seine Organe als Sinnzusammenhänge, die ein den Klasseninteressen dienendes Denken produziere. Sie konzipierte den Markt als Kontrollmacht, als ideologische Rechtfertigung der Klassenunterdrückung. Diese wird durch eine Umarmung der Kultur – oder der Ideologie – als authentische oder postauthentische Ausdrucksweise von Subjektivität ersetzt: Ideologie ist kein Ausfluss mehr, der problematischerweise unvermeidlich ist, sondern vielmehr der Ort des Vergnügens, des Widerstandes, der Macht und der Gegenmacht. Ideologie ist Kultur, und damit ist Kultur immateriell, reiner Geist. Diese Konzeptualisierung ermöglichte die Runderneuerung der Cultural Studies als Kulturpolitik. Es ist die angenommene Immaterialität der Kultur, ihre symbolische Betonung, die die Fixierung auf die KonsumentIn begünstigt, die Kultur als Attribut ihrer Identität, als Kennzeichen ihres Geschmacks wahrnimmt. Zahlreiche KulturtheoretikerInnen erfinden sich selbst neu als Möchtegern-EntscheidungsträgerInnen in den „Kulturindustrien“. Indem sie immer noch Begriffe aus der von ihnen aufgenommenen Kulturtheorie wiederholen, sprechen sie die Sprache der Marktforschung und des Nischenmarketings, sie sind Werkzeuge des Kapitalismus für die Platzierung von Produkten in wettbewerbsorientierten Industrien.[5] John Holden, Leiter der Entwicklungsabteilung im Think Tank Demos und früherer Anlagenbankier mit einem Universitätsabschluss in Recht und Kunstgeschichte, erzählt uns in seinem Essay „Der kulturelle Wert von Tate Modern“[6], dass jene Menschen, die die Tate Modern besuchen, nicht „BetrachterInnen“, sondern AkteurInnen sind. Er übernimmt hier eine Version von Walter Benjamins Idee des Kulturpublikums als Produzent. Aber die Bedeutung wird in ihre zeitgenössische Parodie verdreht. Er fährt mit der Behauptung fort, dass „dies [das Auftreten der MuseumsbesucherIn als AkteurIn] in der Sprache des Marketing erklärt werden kann – Menschen bekräftigen ihre eigene Coolness durch ihr Bündnis mit einer der coolsten Marken Englands, oder man denkt es als etwas Vornehmeres –, das die Identität formt und das Selbst durch eine Interaktion mit etwas ausweitet, das die britische Kulturministerin Tessa Jowell ‚komplexe Kultur’ nannte.“
Adorno gegen die Industrie
Kunst ist nicht nur ein Teil des business as usual. Sie ist das universelle Schmiermittel dafür, dass sich die Zahnräder des Wirtschaftslebens besser drehen und die Gelenke der Gesellschaft weicher ineinander greifen. Adornos Konzept der „Kulturindustrie“ – das Steuern des nicht Steuerbaren – ging davon aus, dass die Industrie der Bannfluch der Kultur war. Industrie bedeutet Geschäft, nicht endende Produktion. Für Adorno ist die Kunst ein Platzhalter für die Utopie, aber dies hieß nicht, dass sie irgendetwas mit den technologischen Utopien gemein hatte, die sich fleißig Wege durch und aus dem Kapitalismus vorstellten. Adorno postulierte die Utopie als einen Ort für Trägheit, Nicht-Produktivität, Nutzlosigkeit. In der Kunst geht es nicht um unaufhörliche Produktion, industrielle Fertigung von Artefakten, Werten, Nebenprodukten, Arbeitserträgen, Ergebnissen und Zielen – all das ist notwendig für Subventionsanträge und Kontrollberichte. Kunst ist nicht einmal ein Ort für die Herstellung konkreter Alternativen: „So wenig wie Theorie vermag Kunst Utopie zu konkretisieren; nicht einmal negativ.“[7] Adorno stellt dies folgendermaßen dar:
„Kunst heißt nicht: Alternativen pointieren, sondern, durch nichts anderes als ihre Gestalt, dem Weltlauf zu widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt.“[8]
In ihrer Form schlägt Kunst etwas anderes vor als business as usual. Die Kunst bietet einen Ort für die Utopie, ihre Form zeichnet die Kontur der Utopie nach. Aber sie kann diese nicht repräsentieren, stattdessen stellt sie diese zukünftige Zeit negativ vor:
„Wir mögen nicht wissen, was der Mensch und was die rechte Gestaltung der menschlichen Dinge sei, aber was er nicht sein soll und welche Gestaltung der menschlichen Dinge falsch ist, das wissen wir, und einzig in diesem bestimmten und konkreten Wissen ist uns das Andere, Positive, offen.“[9]
Es ist diese negative Vorstellung, die die Kunst vorantreibt. Es ist jedoch immer noch möglich, sich – ohne dabei konkret zu werden – Zukunftsoptionen für und in der Kunst vorzustellen, wie dies Adorno tat, als er das Folgende in der Ästhetischen Theorie schrieb:
„Durch unversöhnliche Absage an den Schein der Versöhnung hält sie diese fest inmitten des Unversöhnten, richtiges Bewusstsein einer Epoche, darin die reale Möglichkeit von Utopie […] auf einer äußersten Spitze mit der Möglichkeit der totalen Katastrophe sich vereint.”[10]
Die Kunst könnte wegen ihrer prekären, ungewöhnlichen Situation in der Warengesellschaft eine nicht anschauliche Beziehung mit der Utopie stützen. Sie kennzeichnet den Ort der „Idee“ von Utopie. Angesichts der Kulturindustrie klammert sich Adorno an die Kunst als einzige Zufluchtsstätte für die Utopie und als unsere einzige Aussicht auf ein anderes Leben. Adornos Anschmiegung an die Kunst ist richtig genug, insofern es ohne die Überlegung der Kunst, genau wie ohne den Gedanken der Utopie, keine Alternative zur Industrie gebe. Aber weiter reicht dieser Gedanke nicht.
Nach Adorno: Kulturpolitik als Ästhetisierung der Politik
Die Kunst kann sich nicht in sich selbst von einer dem Industriekapitalismus intrinsischen Situation erholen, durch den sie zu einer Gehilfin des Politischen, verstanden als das Ökonomische, gemacht wurde. Sie kann sich nicht selbst wieder ins „Ästhetische“ absondern. Ihre Verwicklung zu verleugnen würde lediglich vorkritische Ideen bekräftigen, so als ob Walter Benjamin, Th. W. Adorno und Guy Debord nie existiert hätten. Kunstbewegungen verschmolzen auf verschiedene Weise mit politischen Angelegenheiten. Politik wurde zu einer Kunst der Darstellung. Die abschließenden Bemerkungen Walter Benjamins in seinem Kunstwerk-Aufsatz zur „Ästhetisierung der Politik“ und der „Politisierung der Kunst“ haben eine neue Gültigkeit erlangt. Heute kann man überall eine Ästhetisierung der Politik beobachten. Wir leben in einer Welt des vermittelten politischen Spektakels, das Passivität und reflexartige Reaktionen verstärkt. Politik ist eine Show, die wir uns ansehen müssen und in der die „Seiten“ im Angebot einfach nur Trennungen innerhalb eines im Wesentlichen Identischen sind. Benjamins Wendung zeigt an, dass sich jenseits der Ästhetisierung politischer Systeme, Figuren und Ereignisse eine noch grundsätzlichere Ästhetisierung (oder Entfremdung) verbirgt: die Ästhetisierung der menschlichen Praxis. Dies läuft auf eine Entfremdung des Spezies-Sein hinaus, die so weit reicht, dass wir unsere eigene Vernichtung akzeptieren und uns an ihrer Betrachtung erfreuen. Benjamin diskutiert die Fragen einer Politisierung der Kunst im Kontext menschlicher Vernichtung. Der Krieg ist zum ultimativen künstlerischen Ereignis geworden, indem er die neuen Bedürfnisse des technologisch runderneuerten menschlichen Sensoriums befriedigt. Dies war die Vollendung von l’art pour l’art oder jener Ästhetisierung, wie sie 1936 gesehen wurde, was bedeutet, dass alles, sogar der Krieg, eine ästhetische Erfahrung ist. Die Menschheit verfolgt aufmerksam eine technische Zurschaustellung von Schreckens- und Ehrfurchtsverhältnissen, was ihrer eigenen Folter gleichkommt. Sie schwelgt darin. Die wahre Politik – die rationale Handhabung von Technologien, die demokratische Inkorporierung der AnwenderInnen dieser Technologien, die Enthüllungen über die Anteile am Eigentum, die das System antreiben – verlangt nach eigener Handlung: der Autor als Produzent, das Publikum als Kritiker, wie Benjamin es ausdrückt.[11] Desgleichen ist die durch den Kommunismus politisierte Kunst nicht die bekannte und geerbte (für den passiven Genuss verdinglichte) Kunst, sondern vielmehr, schon wieder, eine Möglichkeit für die eigene Handlung. Dies ist eine dialektische Aufhebung, keine Negation. Oberflächlich betrachtet mag es scheinen, als ob die Politisierung der Kunst in einer umfassenden Weise in die „künstlerische Gemeinschaft“ eingegangen wäre. Ausstellungen lenken oft die Aufmerksamkeit auf „politische“ Fragen von Armut, Geschlecht, Ethnizität, Globalisierung und Krieg. Dies ist jedoch nicht der Sieg der Benjamin’schen Idee einer Politisierung der Kunst. Tatsächlich handelt es sich um ein weiteres Symptom der Ästhetisierung der Politik. Denn das, was durch die wahre Politisierung der Kunst produziert wird, ist nicht das, was wir in Galerien zu sehen gewohnt sind – eine politisch korrekte Kunst, die sich mit und in der Galerie und dem Subventionssystem begnügt und die innerhalb der Bedingungen der Kreativ- und Kulturindustrien in einem Wettbewerb steht. Im Gegenteil, die Politisierung der Kunst bedeutet die vollständige Ablehnung des Systems der Zurschaustellung, der Produktion, der Überwachung und der Inklusion gleichermaßen wie die Ablehnung des Elitismus und der Exklusion, da sich die Kunst in der alltäglichen Praxis auflöst und politisch wird, das heißt, als Praxis und Stoff für Kritik für alle demokratisch verfügbar ist.
Karl Marx merkt an, dass die menschliche Aktivität die Wirklichkeit durch die Praxis konstituiert und die Wahrheit durch den Prozess der Selbstentwicklung gewonnen wird. Er formuliert dies bekanntermaßen so: In der kommunistischen Gesellschaft ist das vervollständigte Individuum morgens ein Jäger, nachmittags ein Fischer und nachts ein kritischer Kritiker, ohne je gesellschaftlich als Jäger, Fischer oder Kritiker definiert zu werden. Es ist eine Eigenschaft der mangelnden Freiheit in der Klassengesellschaft, dass manche Menschen mit der Aufgabe betraut sind, KünstlerInnen zu sein und diese soziale Rolle zu ertragen, während andere davon ausgeschlossen bleiben. Anders ausgedrückt ist die künstlerische Praxis heute, zerstört durch die Kommodifizierung, eine Entstellung der sinnlichen Entfaltung des Selbst, die die wahre menschliche Gemeinschaft kennzeichnet. Die Verdinglichung der menschlichen Handlung in getrennte Bereiche von Arbeit und Spiel, Ästhetik und Politik beeinträchtigt alle und muss überwunden werden. Das Ästhetische muss aus dem Ghetto der Kunst gerettet und ins Zentrum des Lebens gestellt werden.
Was ich letztlich sagen will, ist Folgendes: Keine der Kritiken an den Kultur- und Kreativindustrien macht Sinn, solange man nicht darauf vorbereitet ist, das kapitalistische Industriemodell als ein Ganzes zu kritisieren, wo immer es auftaucht, für die Herstellung welcher Ziele auch immer. Adorno mag Recht haben damit, dass die Kunst eine besondere Form der Arbeit ist, die die kritischen Punkte des Systems enthüllt. Soweit sie jedoch industrialisiert wurde, zeitigt sie dieselben Effekte wie jede Arbeit – es ist Scheiße, sie zu machen, sie ist entfremdet und langweilig. Dies sollte unser Ausgangspunkt sein – die Arbeitsbedingungen, wo auch immer wir ihnen begegnen, nicht nur das spezifische Leid der KünstlerInnen. Das bedeutet, danach zu fragen, warum die „soziale Inklusion“ von vornherein notwendig ist und warum die Klassengesellschaft die Kunst sowohl braucht wie auch nicht braucht.
[1] Alle Zitate der UNESCO wurden der UNESCO-Website, im Besonderen dem Abschnitt zu „Kultur, Handel und Globalisierung“ entnommen. Vgl. http://www.unesco.org/culture/industries/trade/.
[2] Tate Modern, The First Five Years, London 2005 (http://tate.org.uk/modern/tm_5yearspublication.pdf).
[3] Die Sprache „der Straßen“ wird durch die Leitung der Sponsoring-Stelle auf der Website der BT verwendet und anderswo in Vermarktungswettbewerben und Ähnlichem reproduziert.
[4] Stuart Hall, „Das kulturelle Vermächtnis der Cultural Studies“, in: Ders., Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften, Hamburg: Argument Verlag 2000, S. 38.
[5] Vgl. Jim McGuigan, Rethinking Cultural Policy, Maidenhead: Open University Press/McGraw-Hill Education 2004, S. 139.
[6] Vgl. Tate Modern, op. cit., „The Cultural Value of Tate Modern“.
[7] Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, S. 55.
[8] Theodor W. Adorno, „Engagement“, in: Ders., Noten zur Literatur, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1981, S. 413.
[9] Theodor W. Adorno, „Individuum und Organisation“ [1953], in: Ders., Soziologische Schriften I, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 456.
[10] Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 55f.
[11] Vgl. Walter Benjamin, „Der Autor als Produzent“ (1934), in: Ders., Medienästhetische Schriften. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002.