print
07 01 08

Die Grammatik verändern

Gerald Raunig


„Exodus ist die Übertragung der heuristischen Prozedur, die die Mathematiker als Datenvariation bezeichnen, auf die politische Praxis: Indem wir sekundären oder heterogenen Faktoren Vorrang geben, bewegen wir uns schrittweise weg von einem bestimmten Problem, nämlich der Frage: Unterwerfung oder Aufstand?, zu einem ganz anderen Problem: Wie können wir eine Bewegung des Abfallens verwirklichen und zugleich Formen der Selbstverwaltung ausprobieren, die zuvor unvorstellbar waren?“ (Paolo Virno, Motto di spirito e azione innovativa)

 

 

 

Paolo Virno ist Philosoph, in erster Linie mit Sprachphilosophie befasst. Diese Philosophie betreibt er vor dem – nicht unbedingt immer ganz offensichtlichen – marxistischen Hintergrund der italienischen operaistischen und postoperaistischen Theorie. Wie Martin Birkner und Robert Foltin in ihrer im Schmetterling-Verlag erschienenen Einführung zum (Post-)Operaismus (von italienisch operaia/o, ArbeiterIn) anschaulich beschreiben, ist diese marxistische Erneuerungsbewegung ab den 1950ern eine italienische Erfindung, die allerdings auch späte Effekte nicht nur auf breite Teile der Antiglobalisierungsbewegung zeitigte. Die Genealogie des (post-)operaistischen Denkens ist vor allem aber ein wichtiger Strang jener Kämpfe, die sich im Italien der 1960er und 1970er Jahre ereigneten und die von den Arbeitskämpfen in den großen Fabriken über die außerinstitutionellen Kämpfe der autonomia operaia („Arbeiter-Autonomie“) in eine sehr früh einsetzende theoretische und praktische Auseinandersetzung mit den Transformationen der kapitalistischen Akkumulations- und Produktionsweise mündeten. Paolo Virno selbst war in den 1970er Jahren als junger Mann aktiv in der politischen Gruppe Potere Operaio, wofür er drei Jahre bis zu seinem Freispruch im Gefängnis verbrachte.

 

In seinem einzigen in deutscher Sprache, dafür gleich in zwei verschiedenen Versionen bei Turia+Kant und im ID-Verlag, veröffentlichtem Buch, der Grammatik der Multitude, beschreibt Virno unter anderem den Prozess der Migration des Politischen aus der Öffentlichkeit in die Bereiche der Produktion. Er erklärt diese Subsumption des politischen Handelns unter den Arbeitsprozess vor allem durch die Kategorie der Virtuosität. Virno sieht in ihr eine der wesentlichen Voraussetzungen der gegenwärtigen Produktionsordnung, auch insofern diese mit dem Auftauchen eines neuen historisch-politischen „Subjekts“ verbunden ist: der postfordistischen Multitude.

Arbeit entwickelt sich im postfordistischen Kapitalismus zusehends zu einer virtuosen Darbietung ohne Werk. Sie verlangt dabei nach einem Raum, der wie die Öffentlichkeit strukturiert ist. Das, was für Hannah Arendt eine grundsätzliche Kategorie des Politischen ausmacht, die Gegenwart anderer, das Sich-den-Blicken-der-anderen-aussetzen, die Kooperation und die Kommunikation, werden nun zu grundlegenden Qualitäten der Arbeit. Vor dieser Folie des Öffentlich-Werdens der Arbeit entwickeln sich Subjektivierungsweisen, die Virno virtuos nennt.

 

Wird ein weit von seiner Alltagskonnotation entfernter philosophischer Begriff wie jener der Virtuosität auf künstlerische oder politische Praxen angewandt, bedarf es dazu eines gewissen Fingerspitzengefühls. Ein solches Beispiel zugleich des Fingerspitzengefühls und der Aktualisierung von Virnos Begriffsgefüge ist das Video “First of May. The City Factory“ (60 min., 2004). In ihm zeichnet der spanische Videokünstler und Aktivist Marcelo Expósito eine komplexe Einführung in die Transformationen vom fordistischen Paradigma der Fabrik zum postfordistischen Paradigma der virtuosen, kognitiven und affektiven Arbeit. Expósito zeigt, wie sich das Fiat-Werk Lingotto, einst in den 1930er Jahren ein stolzes Zentrum der Automobilproduktion, heute als Hotel und Konferenzzentrum im Herzen der Dienstleistung als fabbrica diffusa präsentiert, eine ‚Fabrik’, die sich in alle Arbeits- und Lebensbereiche, in die Privatsphäre wie in die urbanen Räume ausbreitet. In aussagekräftigen und detaillierten Bildern gibt Expósito jene Transformationen des Politischen wie der Produktionsweisen zu sehen, die Virno beschreibt: Während die Arbeiter am fordistischen Fließband von Lingotto als Kette in der seriellen Autoproduktion zu sehen sind, wird das Auto im postfordistischen Setting des Konferenzzentrums zum Spielzeugauto eines spielenden Kindes. Arbeit verkörpert sich hier in jenen virtuosen, affektiven und feminisierten Tätigkeiten, die durch die Kinderbetreuerin repräsentiert sind.

Parallel zu dieser Ebene der Immaterialisierung der Produktion zieht sich allerdings auch eine zweite Linie der Virtuosität durch das Video; sie betrifft die Transformation der Widerstandsformen, vom Streik zu den Interventionen in die Stadt als Gelände der postfordistischen Fabrik, vom Holzschuh in die Maschinerie zur Figur des Hackers, der die Maschinerie der Kommunikation unterbricht, von den streikenden ArbeiterInnen zur heutigen Praxis der Euromayday-Bewegung als transnationaler Erneuerung der politischen Praxis des 1. Mai.

 

Schon bei der Rezeption der Grammatik der Multitude mag der Eindruck entstehen, dass Paolo Virno im Gegensatz zur spinozistisch-ontologischen Perspektive seines älteren Kollegen Antonio Negri mehr an der Grammatik interessiert ist denn an der Multitude. Sein Interesse an sprachphilosophischen Fragen, seine Betonung der Sprache als unbestimmter, allen Menschen gemeinsamer Partitur bestärkt diese Lesweise. Doch es ist gerade die durchgehende Qualität von Virnos Schreiben, diese Fragen der Sprache und des Intellekts als transindividuelle Grundlage der Kooperation und als General Intellect durch teilweise überraschend an- und einsetzende Brüche und Brücken mit Komponenten einer politischen Philosophie zu verbinden.

Im nun auch auf Englisch vorliegenden, bei Semiotext(e) als Jokes and Innovative Action erscheinenden neuen Buch Virnos Motto di spirito e azione innovativa („Witz und innovatives Handeln“) wiederholt sich diese theoretische Strategie der Politisierung der sprachlichen Grammatik ein weiteres Mal: Das Buch ist zunächst eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem „Wesen“, der „Struktur“ und der „Logik“ des Witzes, mit permanent geführter Korrespondenz zur Frage des Entstehens von Kreativität und innovativer Handlung. Seinen Ausgangspunkt nimmt es von einer sprachphilosophischen Lektüre von Freuds 1905 veröffentlichter Studie über den Witz. Virno nennt dieses Buch den bedeutsamsten Versuch, die verschiedenen Arten des Witzes auf eine gleichsam botanische Weise zu deuten – und er geht selbst nicht unähnlich vor, allerdings streng anti-freudianisch.

Der Witz ist mit Virno das Diagramm der innovativen Handlung. In seiner Grammatik spiegeln sich wie in einer Miniatur die makrokosmischen Veränderungen der Lebensformen. In weitläufigen philosophischen Ausführungen vor allem über Aristoteles, Wittgenstein und Carl Schmitt versucht Virno aufzuzeigen, dass uns gerade der Witz vor Augen führe, dass und wie unsere Welt zu verändern sei. Und relativ überraschend kommt Virno nach diesen Überlegungen u.a. über die Schwierigkeit, eine Regel anzuwenden, und ihre Beziehung zu Ausnahme und Ausnahmezustand, schließlich auch auf zwei seiner bekannten Figuren aus der Grammatik der Multitude zurück.

In Motto di spirito e azione innovativa tauchen diese Figuren zuerst als die zwei grundlegenden Typen des Witzes auf. Diese zwei Hauptformen des Witzes sind für Virno der mehrfache, mehrdeutige Gebrauch und die Verlagerung. Virno schreibt: „Alle Witze, wie auch alle Unternehmungen von Menschen, ihre Lebensform zu verändern, speisen sich entweder aus der ungewöhnlichen Kombination vorhandener Elemente oder aus einer abrupten Abweichung in Richtung jenseitiger Elemente.“ Der Witz wird hier zum Mikrokosmos, in dem wir die unerwartete Kombination und die Verlagerung von Bedeutung als Grundlage der Veränderung von Lebensformen erfahren. Auf der makroskopischen Ebene fügt Virno dieser grundlegenden Typologie des Witzes die Äquivalente der unternehmerischen Innovation und des Exodus hinzu.

 

In der Grammatik der Multitude hatte Virno schon eine Umkehrung der Kulturindustrie-Theorie von Adorno und Horkheimer verfolgt: Während die beiden Theoretiker der Frankfurter Schule das kulturelle Feld als letztes Rückzugsgebiet vor der Industrialisierung der gesamten Gesellschaft beschreiben, die Kulturindustrie als störrische Nachzüglerin der fordistischen Transformation, fasst Virno sie als Antizipation und Paradigma postfordistischer Produktionsweisen. Die Kulturindustrie, in der es um die Produktion von Kommunikation mittels Kommunikation geht, ist die Matrix des Postfordismus, ihre zentrale Figur jene des massenhaften Virtuosen. Virnos Beispiel aus dem engeren Bedeutungsfeld der Virtuosität: Der Klavier-Virtuose Glenn Gould hasste es, Werke vor Publikum aufzuführen und zog sich deswegen ins Aufnahmestudio zurück. Marcelo Expósito zeigt diese Praxis von Glenn Gould in seinem Video auf anschauliche Weise: Die Virtuosität ereignet sich hier weniger im Akt der Aufführung des „ausführenden Künstlers“ als vielmehr in der akribischen Arbeit der Neuzusammensetzung des Materials in der Postproduktion.

Eine ähnliche Figur taucht nun in Motto di spirito e azione innovativa als analog zum Witz-Typus „unübliche Kombination von vorhandenen Elementen“ auf. Diese erste Figur, in der es um die Rekombination vorhandener Elemente geht, ist die „Entrepeneur-Funktion“. Der Entrepeneur darf nun weder mit einem CEO noch mit einem Besitzer eines kapitalistischen Unternehmens verwechselt werden. Statt der Zuweisung zu einer Person oder einem Beruf, handelt es sich hier vielmehr um eine Funktion und ein „gattungsspezifisches Vermögen, das aktiviert wird im Fall von Stagnation oder Krise“. Die „Entrepeneur-Funktion“ ist analog zu jener ars combinatoria des Witzes, in Bezug auf die ein abgewandelter Gebrauch desselben sprachlichen Materials relevant ist. Virtuosität, Kreativität und Innovation beruhen in dieser Hinsicht vor allem auf der kleinen Differenz in der Wiederholung, aber auch auf dem Fehler, auf Fehlschlüssen und Fehlleistungen.

Der andere grundlegende Typus des Witzes und der Innovation ist die Verlagerung. Virno schreibt: „ Die logisch-linguistischen Ressourcen, die es brauchte, um einen unerwarteten Ausweg aus dem Ägypten der Pharaonen zu öffnen, sind dieselben, aus denen sich Witze speisen, die durch Verschiebung und Verlagerung zu charakterisieren sind, das heißt, durch eine abrupte Abweichung von der Achse des Diskurses.“ Auf linguistischer Ebene heißt  Verlagerung, plötzlich das Thema zu wechseln, wenn sich eine Konversation wie auf Schienen bewegt. Im Feld des Politischen aktualisiert sie sich als kollektives Abfallen, als Exodus. Wie schon das Zitat am Anfang dieses Texts sagt, geht es hier um eine nicht-dialektische Form der Negation und des Widerstands, oder besser: des Abfallens und Fliehens: Konfrontiert mit der Frage, ob sie sich dem Pharao unterwerfen oder offen gegen seine Herrschaft rebellieren sollten, erfinden die Israeliten eine Möglichkeit, mit der vorher niemand gerechnet hatte: sie fliehen.

In der Genealogie des Begriffs der Fluchtlinien bei Gilles Deleuze stehend, ist die postoperaistische Bedeutung des Exodus, wenn sie auch nicht mehr vom ganz anderen Außen träumen  lässt, keineswegs als harmlos, individualistisch oder eskapistisch-esoterisch zu verstehen sind. „Nichts Aktiveres als eine Flucht!“, wie Gilles Deleuze und Claire Parnet in den 1970er Jahren schrieben und wie es Paolo Virno fast wörtlich in der Grammatik der Multitude wiederholt: „Nichts ist weniger passiv als eine Flucht, ein Exodus.“ Es geht in dieser exodischen Form der Innovation um eine gefährliche, positive Form des Abfallens, eine Flucht, die gleichzeitig nach neuen Waffen suchen lässt. Anstatt Herrschaftsverhältnisse als unverrückbaren Horizont vorauszusetzen und dennoch gegen sie anzukämpfen, verändert diese Flucht die Bedingungen, unter denen die Voraussetzung stattfindet. Der Exodus verwandelt den Zusammenhang, in dem ein Problem aufgetaucht ist, anstatt das Problem über eine Entscheidung zwischen vorgegebenen Alternativen zu behandeln. Er eröffnet, so heißt es in Motto di spirito e azione innovativa, eine Seitenstraße, die noch nicht auf den politischen Karten verzeichnet ist, „um genau jene Grammatik zu verändern, die die Auswahl aller denkbaren Wahlmöglichkeiten bestimmt“.


Gerald Raunig

biography


other languages

Modifying the Grammar. Paolo Virno’s Works on Virtuosity and Exodus Die Grammatik verändern Modificar la gramática