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18 01 07

Den Verstand fest verschlossen. Kunst im Zeitalter der Angst

Übersetzt von Tom Waibel

Hito Steyerl


Jüngst berichtete BBC, dass es 6000 der circa 30.000 afrikanischen Boat-People nicht auf die Kanarischen Inseln geschafft haben.[1] Sie sind auf dem Weg ertrunken oder vermisst. Das sind nicht die einzigen Zahlenangaben allein für das Jahr 2006. Die Zahl wird nur lebendig, wenn wir sie mit anderen Ziffern vergleichen. Sie ist fünfmal so hoch wie die Anzahl der Verwundeten im Israel/Libanon Konflikt im gleichen Jahr. Etwa doppelt so groß wie die Toten der so genannten zweiten Intifada. Oder die Opfer von 9/11. Könnte sich jemand die Medienberichterstattung vorstellen, wenn diese Anzahl von Menschen während eines Erdbebens oder eines Terrorangriffs ums Leben gekommen wäre? Zumindest einen Monat lang die neuesten Nachrichten, Sonderberichte und eine unaufhörlich sprechende Armee von Risiko- und HilfeexpertInnen. Aber um das Schicksal der Boat-People gibt es nur ein Furcht erregendes Schweigen. Wie kommt das? Diese Leute sind nicht nur wegen schadhaften Booten, starken Stürmen oder anderen Launen der Natur ums Leben gekommen. Ihre Todesursache ist die europäische Angst.

Angst ist Europas gemeinsamer Nenner: Sie ist ihre geheime Währung. Nach dem Scheitern der Ratifizierung einer gemeinsamen Verfassung teilen sich die europäischen BürgerInnen nur mehr ihre Beklemmungen von ganzem Herzen. Terrorbedrohung, Einwanderungsbedrohung, Bedrohung durch Personalabbau, Viren, Verbrechen, globale Erwärmung, alles kann virtuell als Phobie konstruiert werden. Es gibt Angst vor zu viel oder zu wenig Veränderung, Angst vor der Welt, Angst vor sich selbst. Sogar die Unglücklichen, die fortfahren, in den europäischen Meeren zu ertrinken, sind Objekt tiefgreifender Beklemmung. Es wäre völlig verständlich, wenn sich die Boat-People vor Europa fürchten würden, da die Zahl der Todesopfer von rund 25 % allerdings Furcht erregend ist.

Unglücklicherweise macht es keinen Sinn, auf die Irrationalität dieser Form von Angst hinzuweisen, da sich alles genau um diese Irrationalität dreht. Es gibt einen einfachen Grund für dieses Scheitern der Vernunft. Angst ist sehr produktiv und, wenn man so sagen darf, attraktiv. Wir mögen sie und fördern sie aktiv. Wir wählen sie in Scharen. Der Erfolg der Rechtsparteien und der so genannten populistischen Parteien überall in Europa ist eine Auswirkung einer schon lange bestehenden Sucht nach Angst. Wenn jemandes Leben bedroht ist, impliziert das, dass man noch am Leben ist. Angst rinnt durch die Venen wie Adrenalin oder wie eine Droge. Das ist die zeitgenössische Form von Bewusstsein: Den Verstand fest verschlossen.

Es macht keinen Unterschied, dass viele der Bedrohungen imaginär sind. Die Angst selbst ist real. Sogar noch realer als die Realität selbst. Denn sie macht die Dinge real. Nehmen wir die Mauer in Ceuta: Ein Denkmal der europäischen Angst. Ja, es gibt eine europäische Identität. Nein, es ist nicht der Humanismus, das Christentum oder ein anderes sublimes Ideal. Es ist die Angst. So einfach ist das.

 

Es ist Angst, Idiot

Angst hat viele Qualitäten, die wir mögen. Sie ist intensiv, im Überfluss vorhanden, sie vervielfältigt sich und im Unterschied zu Menschen reist sie frei und schnell. Der digitalen Information ähnlich kann sie nicht nur ohne Qualitätsverlust, sondern sogar mit wesentlichen Verbesserungen kopiert werden. Sie ist das Subjekt intensiven Genießens, ein paradoxes, verschleiertes Begehren. Angst fühlt sich real an – nicht wie die Realität selbst.

Aber Angst ist noch mehr. Sie ist eine populäre Warenform des Affekts; sie ist ein Markenzeichen, angeeignet, vermarktet, vielleicht sogar in Lizenzen vergeben. Der Schauer an Attraktionen am Jahrmarkt der Eitelkeiten, das gruselige Gefühl der Horrorfilme, die Spezialeffekte von Lebensangst und Beklommenheit werden von den Medienmaschinerien mittels vorgefertigter Realität massenhaft produziert. Paolo Virno hat uns daran erinnert, dass diese durchdringende und existentielle Angst mit dem Verlust traditioneller Gemeinschaftlichkeit und dem Werden der Menge verknüpft ist. Sie kann von gewöhnlichen Ritualen oder deren modernem Gegenstück, einer öffentlichen Sphäre kommunikativer Rationalität, nicht im Zaum gehalten werden.[2] Im Gegenteil: Angst ist selbst die Form der zeitgenössischen Öffentlichkeit. Sie konstituiert ein weitgehend globalisiertes Gemeinsames, das sich im Rhythmus der neuesten Nachrichten wiegt.

In einem interessanten Text hat Brian Massumi das auf Farben basierende US-Terrorwarnsystem als ein Instrument beschrieben, das die Affekte der amerikanischen Bevölkerung synchronisiert. Es gibt keinen Notwendigkeit mehr für Erklärungen – lass den Leuten einfach eine Farbe aufleuchten (irgendwas zwischen Rot und Gelb, d.h. Grün ist keine Möglichkeit) und moduliere ihre Launen.[3] In dieser Form richtet sich die Macht geradewegs an die Sinne. Das ist nicht nur eine Ästhetisierung. Es ist spürbar geworden, es ist in die Wahrnehmung als solche eingedrungen. Jetzt stellen wir fest, dass Angst weit über einen individuellen Geisteszustand hinausgeht. Angst kommt auf, wenn Politik als Ästhetik ausgeübt wird.

 

Die Politik des Monochromen

Hier kommt die Kunst ins Bild. Wenn die Politiken der Angst sich selbst als Ästhetik artikulieren, müsste es auch möglich sein, ihnen auf dieser Ebene entgegenzutreten. Wenn die Angst durch die Sinne wirkt, warum nicht über andere Sinnlichkeiten nachdenken? Wenn eine Anordnung von Farben, die für die Bevölkerung aufleuchten, deren Emotionen verändert, warum dann keine unterschiedliche Farbanordnung arrangieren?

Angst erscheint als Kreuzweg, an dem sich Politik und Kunst wiederum begegnen – wenn auch nicht in der üblichen Form von Diskursivität. Zeitgenössische Politik scheint im Allgemeinen viel mehr in Form von Gefühlen zu arbeiten. Die Farben des Terrorwarnsystems sind nur ein Beispiel für die Adressierung der Sinne durch die Politik. Doch die Übernahme ästhetischer Strategien des Monochromen ist ein sehr viel weiter verbreitetes Phänomen. Denkt nur an die Reihen der jüngsten Farbrevolutionen: Rosarote Revolution in Georgien (2003), orange Revolution in der Ukraine (2004), grüne oder Zedernrevolution im Libanon (2005). Selbst die angebliche „Ankunft der Demokratie“ im Irak nach den Wahlen 2005 wurde kurzzeitig die „violette Revolution“ genannt. Der Name kommt von der Farbe, mit der die Zeigefinder der WählerInnen angefärbt wurden, um illegale Mehrfachwahl zu verhindern. Die „blaue Revolution“ war der Name für die Proteste der Frauen im Kuwait, um das Wahlrecht für die Parlamentswahlen 2007 zu erringen.[4] In jedem Fall war die Verbindung mit einer besonderen Farbe ausreichend, um in der Öffentlichkeit Gefühle von Hoffnung oder Angst zu wecken – unabhängig von jeglichem politischen Gehalt. Farbe wurde dagegen zum Markenzeichen für einen besonderen politischen Affekt: Eine Politik des Monochromen. Eine Farbe, die direkt zur Aktion wird.

Worauf aber gründet sich diese Politik? Untersuchen wir diesen speziellen Typ politischer Ästhetik genauer. Es ist klar, dass das Monochrome ein Genre mit einer langen Tradition in der Moderne ist. Was war die Funktion des Monochromen, als es zuerst in der Kunstwelt auftauchte? Gleich von Beginn an entsteht ein starker Widerspruch in der Interpretation des Monochromen. 1921 stellte Alexandr Rodchenko drei Monochrome gemeinsam aus – jedes in einer der drei Grundfarben. Er intendierte sein Werk als Manifestation des „Tods der Malerei“. Im Gegensatz dazu wurde Kazimir Malevich’s „Weißes Quadrat auf Weißem Grund“ von 1918 vielmehr als eine Konzentration der Essenz von Kunst („reines Gefühl“) verstanden. Das Monochrome könnte daher entweder als das Ende der Kunst oder als „reines Gefühl“ interpretiert werden. Es könnte als „Tod der Malerei“ oder als völliger Neubeginn in der Kunst interpretiert werden.

Die Funktion politischer Monochrome ist sehr ähnlich. Beide zeigen das Ende von Politik als solcher an (Ende der Geschichte, Ankunft der liberalen Demokratie) und gleichzeitig eine Epoche von „reinem Gefühl“. Sie signalisieren zugleich den Tod der Politik und ihre radikale Erneuerung auf der Ebene der Wahrnehmung – durch den Appell auf das „reine Gefühl“. 

 

Krise der Repräsentation

Doch das Monochrome verweist als Form auch auf eine andere Entwicklung. In der westlichen Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts manifestiert es eine Krise der Repräsentation, die letztlich die Zerstörung und das Hinter-Sich-Lassen der traditionellen Form des Tafelbilds als solchem zur Folge hat. KünstlerInnen haben Farbe, Form und letztlich die Objekte von der Beschränkung des Rahmens befreit. Der Rahmen wurde angegriffen, ausgestellt, zerstört und später einfach hinter sich gelassen.

Weist das Auftauchen des politisch Monochromen fast ein Jahrhundert später nicht auf eine ähnliche „Repräsentationskrise“ in der Politik? Es scheint, als ob wir allmählich die Rahmenbedingungen des demokratischen Nationalstaates ebenso hinter uns lassen, wie der Rahmen die traditionelle Tafel in der Malerei.

Warum aber fallen dann einige Ereignisse vollständig aus dem Rahmen, wie die 6000 Vermissten und Ertrunkenen? Was verursacht diese selektive Empfindungslosigkeit? Es scheint, als ob die Vermissten und Ertrunkenen in einer Leerstelle jenseits des Gefühls verloren gingen. Eine Zone totaler Unempfindlichkeit, die keine wie auch immer gearteten Gefühle auslöst, eine weiße Todeszone, ebenso ohne Farbe wie ohne Gefühl. Diese Zone konstituiert den blinden Fleck der Politik der Gefühle, einen Nullpunkt der Angst, der dennoch unsere Perspektive auf sie strukturiert. Diese Leerstelle ist der Grund für die Gestalt der Angst. Ihr unheimliches Schweigen drückt die Krise der Repräsentation als solcher aus. 

 



[2] Paolo Virno, Grammatik der Multitude, übers. v. Klaus Neundlinger, Wien: Turia + Kant 2005, S. 37ff.

[3] Brian Massumi, Fear – (The Spectrum said), http://www.16beavergroup.org/mtarchive/archives/001927.php

[4] Informationen aus dem Wikipedia Beitrag „Farbrevolutionen,“ http://de.wikipedia.org/wiki/Farbrevolutionen

Hito Steyerl

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Thomas Waibel (translation)

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