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02 05 08

Die Bresche

Gerald Raunig


zuerst veröffentlicht in Freitag 19/2008


„1968 war das Hereinbrechen des Realen. […] es sind die Historiker, die das nicht verstanden haben, in solchen Augenblicken tritt die Differenz zwischen der Geschichte und einem Werden zutage, und der Mai '68 war ein Revolutionär-Werden ohne eine revolutionäre Zukunft. Hinterher kann man sich immer darüber lustig machen.“ (Gilles Deleuze)

 



Ganz ohne Jubiläumsdruck bezeichnet der französische Philosoph Gilles Deleuze Ende der 1980er Jahre in den einzigen offiziellen Filmaufnahmen seines stolpernd-strömenden Denkens (die zu seinen Lebenszeiten auch nicht gesendet werden durften) die Ereignisse von 1968 als ein Hereinbrechen des Werdens, genauer: des "Revolutionär-Werdens". Mit dieser Formulierung wendet sich Deleuze zunächst gleich gegen zwei gegensätzliche Aspekte der Interpretation von 1968. Er wendet sich gegen die Idee des großen revolutionären Bruchs, des leninistischen Einschnitts als historisch oder geografisch trennendes Element zwischen dem trüben Dasein in kapitalistischer Vergesellschaftung und dem paradiesischen Land des Sozialismus oder der revolutionären Zukunft. Aber er wendet sich auch gegen die Historisierung, Rasterung und Festlegung des Ereignisses, oder besser: der vielfältigen Zahl von Ereignissen, die "1968" ausmachen. Die "Werden", um die es Deleuze geht, sprengen Kontinuum und Homogenität linearer Geschichte und Geschichtsschreibung.

Umso vehementer werden sie durch die unterschiedlichen Formate der Geschichtsfestlegung zurechtgestutzt, von der schnellen journalistischen Bewertung bis zur gründlich-nachhaltigen akademischen Klassifizierung durch die Historiografie. Standen die ersten Jahrzehnte nach 1968 im Zeichen des Kampfes um die Deutungshoheit, auch um die positive Vereinnahmung der um 1968 entstandenen sozialen Bewegungen, so scheint sich der Diskurs um das 40-jährige Jubiläum zumindest im deutschsprachigen Raum mit seinen Renegaten-Protagonisten von Kraushaar über Koenen bis Aly nun endgültig auf selbstgewisse Verächtlichkeit zu verengen. "Hinterher kann man sich immer darüber lustig machen", sagt Deleuze, doch das Lustigmachen, vor allem das gegenwärtige Verächtlichmachen, geht völlig vorbei an den Ereignissen, an der Vielheit der Brüche, an der Qualität der "Bresche" von 1968.

La Brèche, das war 1968 ein Daniel Cohn-Bendit zugeschriebener Ausdruck für die Bresche, die die aufständischen Studenten und Arbeiter in die Universitäten, Betriebe und Straßen von Paris schlugen. Es war aber auch der Titel eines Buches von Cornelius Castoriadis, Claude Lefort und Edgar Morin, die diesen Begriff zur Vergegenwärtigung des eben gerade Geschehenen verwendeten, fast noch mitten im Geschehen selbst verfasst, ähnlich vielleicht Marxens Text über die Pariser Commune. Wie Der Bürgerkrieg in Frankreich noch Ende Mai 1871 gleich nach der Pariser "Blutwoche" publiziert wurde, so versuchten die drei in linken Parteien und Zeitschriftenredaktionen (vor allem Socialisme ou Barbarie) erprobten französischen Philosophen im Juni 1968, den Ereignissen "treu" zu bleiben, in der Mitte zwischen Parteilichkeit und ersten ernüchterten Distanzierungen.

Wie soll das aber gehen, den Ereignissen "treu" zu bleiben, ohne in die authentizistische Pose des Kampfberichts zu verfallen? Claude Leforts soeben zum ersten Mal in deutscher Sprache erschienener Essay aus La Brèche heißt Die neue Unordnung, und er legt darin eine Spur eines nicht-vereinnahmenden Narrativs von 1968, und zugleich eine Spur zur grundlegenden Doppeldeutigkeit des Begriffs der Bresche. Eine Bresche schlagen, das heißt zunächst Mauern zu durchbrechen; nicht nur jene materiellen Mauern der Universität von Nanterre, die die extreme topografische Unwirtlichkeit der vorstädtischen Wissensfabrik umgaben, sondern auch die vielen sozialen Barrieren der repressiven Ordnung der Wissensproduktion, und später jene anderer Felder. Das plötzliche Gewahrwerden, dass "die Zäune des Kapitalismus eine Öffnung haben", dass die dichten Maschen dieser Zäune in unerwarteten Momenten aufgeknüpft werden können, diese singuläre Erfahrung kann schwerlich vom Ereignis 1968 getrennt werden.

"Eine Bresche schlagen" verwies 1968 in erster Linie nicht auf ein Begehren nach der Übernahme von Staatsapparat und Ordnungsmacht, die Bresche sollte vielmehr die Möglichkeit eines Neu-Beginnens schaffen, "unstaatliche" Maschinen, eine "neue Un-Ordnung". Wie in der Formulierung "in die Bresche springen" schon der soziale Aspekt der Bresche durchklingt, so hat die Bresche also nicht nur destruktives, sondern auch ein Potenzial der Neuzusammensetzung und Verkettung. Wie die Bresche den Staat durchlöchert, statt ihn zu übernehmen, so aktualisiert sie sich auch als Bresche in die neue, eigene soziale Organisationsform: eine Fluchtlinie, die den gerasterten Raum von Universität, Betrieb und Straße deterritorialisiert und aus ihm heraus gezogen wird, um schließlich als Bresche einen eigenen Raum zu kreieren, mit Lefort "einen Nicht-Ort" der Potenzialität, die sich von Ereignis zu Ereignis weiter trägt, verändert und immer mehr mit sich mitreißt. Und wie die Bresche nicht nur in den gerasterten Raum geschlagen wird, sondern auch für noch so kurze Zeit einen neuen glatten Raum ohne Kerbungen eröffnet, dienten die Barrikaden nicht nur als Schutzwall, sondern auch als Raumzeit einer neuen instituierenden Praxis; und das Aufreißen des Pflasters fand innerhalb dieser selben Geste den Strand.

Die studentischen Akteurinnen der ersten Monate des Jahres 1968 entwickelten die zweifache Bresche, die deterritorialisierende und rekompositorische Bresche in ihrer Praxis des Aufruhrs. Anstatt "engagiert" waren sie "enragiert", um einen Begriff dieser Zeit zu entwenden. Wie Hans Scheulen in seiner Einleitung zur deutschen Ausgabe von Leforts Aufsatz schreibt, gibt es Grund zur Annahme, dass Lefort selbst ein Enragé gewesen sein könnte, einer derjenigen, die ihre Rage, ihre Wut, ihre Aufgebrachtheit nicht in die vorhandenen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen kanalisierten, sondern mit situationistischen und anderen künstlerisch-politischen Instrumentarien die - durch und durch politische - "Phantasie an die Macht" riefen. Die wütende Bresche der Enragés bestand nicht in Boykott oder konkreten Forderungen oder Streikaufrufen. Lefort schreibt: "Sie setzten die Institutionen außer Stande zu funktionieren, sie setzten die Autorität außer Stande ausgeübt zu werden, sie richteten sich öffentlich, vor den Augen aller, in der Illegalität ein [...]"

Diese Illegalität der Enragés erwies sich nun allerdings nicht nur nach außen, in die Richtung des Souveräns, des französischen Staats, des Rektors gerichtet, sie wendete sich auch nach innen. Sie war vor allem deswegen erfolgreich, weil sie "die Spielregeln verletzte, die das Leben der Oppositionen steuerten". Von Anfang an ohne Anführer, ohne Hierarchie, ohne Disziplin, so Lefort, seien sie nicht zu verorten, aus Sicht der traditionellen Linken gar "unzurechnungsfähig" gewesen. Diese unzurechnungsfähige Bewegung flieht die Staatsapparate im Äußeren wie im Inneren: "Die Bresche, die sie in die Universität schlägt, öffnet sie gleichzeitig in den kleinen Bürokratien, die für sich die Forderungen und den revolutionären Kampf in Beschlag genommen haben."

Die geschichtliche Festschreibung der Ereignisse, die den Signifikanten 1968 ausmachen, interpretiert Lefort ähnlich wie Deleuze als Element zur nachträglichen Wiederherstellung der Ordnung: "Man möchte das Überraschende vergessen, den Diskurs von heute mit dem von Gestern zusammenfügen und rasch Nutzen ziehen aus der Gelegenheit - so wie die Plünderer nach einem Erdbeben." Die Plünderer des Ereignisses 1968 scheinen allerdings immer wieder zu kehren, scheinen die Singularität der Ereignisse, die Bresche, den Riss in der Analyse immer unverschämter und immer vollständiger kitten zu wollen, um mit Lefort gesprochen am Ende zu schlussfolgern, dass "die Geschichte das Ereignis selbst genau so gut hätte aussparen können". Diese allgemeine Disposition der Erkenntnis, welche das Ereignis annulliert, ihm allerhöchstens noch die Zeremonie des regelhaft wiederkehrenden Begräbnisses gönnt, können wir im Diskurs um das wiederholte Jubiläum nun aufs Neue verfolgen. 20 Jahre nach 1968 schrieb Lefort: "Man feiert zwanzig Jahre später das Nichts." Und es lässt sich unschwer erkennen, dass die spektakuläre Überbietungsstrategie heutiger Kommentatoren aus ihrem Problem resultiert, dieses Nichts alle 10 Jahre, so auch nach 40 Jahren, sinnloserweise multiplizieren zu müssen.

"Aber die Spur des Risses wird bleiben, auch nachdem der Schleier neu gewebt worden ist", sagt Lefort, und das lässt sich auch auf seine textuellen Vergegenwärtigungen von 1968 beziehen. Allerdings muss revolutionäres Werden heute anders aktualisiert werden als 1968. Aus heutiger Perspektive scheint Leforts Fokus seltsam beschränkt auf eine geografische und eine soziale Engführung. Ihr ist die translokale und postkoloniale Sicht auf 1968 ebenso hinzuzufügen wie eine über die wilde Selbstorganisation der Studentinnen hinaus gehende Analyse. Lefort verweist jedoch immer wieder darauf, dass es falsch sei, die studentische Revolte allein als "Auslöser" zu interpretieren. Sein Interesse ist das des Beteiligten, der die spezifische Situiertheit des Augenblicks entdeckt und sie untersucht am Ort seiner Teilhabe: "Man sollte sich lieber fragen, was das Neue an der in Nanterre unternommenen Aktion war und warum die Universität ein Ort ist, von wo aus sich der Protest auf die übrige Gesellschaft ausbreiten kann."

In immer komplexeren Formen von Gouvernementalität, in einem unübersichtlichen Amalgam aus freiwilliger maschinischer Indienstnahme und repressiver sozialer Unterwerfung erweist sich eine Rückkehr zu Leforts Analyse des sozialen Feldes Universität in all seiner Reduktion für sinnvoll: der Universität als Ort des Privilegs und zugleich als Ort, an dem wenigstens jenes Modell am besten verborgen war, dessen Erschütterung und Transformation 1968 durchgesetzt wurde. Lefort deutete allerdings schon 1968 ebenfalls an, worauf wir nach der Transformation dieses Modells und nach einer Periode der studentischen Mitbestimmung und Selbstverwaltung in den 1970ern und 1980ern hinsteuerten: Kollektive Verwaltung der Universitäten "könnte mit Kunstgriffen umgangen werden, wenn die Studenten der Verführung einer neuen, scheinbar demokratischen Pädagogik erliegen würden, einen bislang noch weitgehend äußerlichen Zwang verinnerlichen und zum Beispiel akzeptieren würden, ihre eigene Arbeit zu messen und zu beurteilen, wenn sie sich also selbst zu Urhebern einer Reglementierung machen würden, die sie in das Korsett einer eng spezialisierten und quasi beruflichen Ausbildung einsperrt." 40 Jahre später sind wir mehr oder weniger in dieser Form der Einsperrung angelangt, die Lefort einigermaßen weitsichtig ankündigt: Serviceorientierung, Dauerevaluierung, Durchbürokratisierung nicht nur aller Akteurinnen, sondern auch aller Vorgänge, Verhältnisse und Beziehungen, und das alles in einer gouvernementalen Form der Pseudo-Freiheit, die die Subjekte ihre eigene maschinische Indienstnahme selbst steuern lässt.

Anhand dieser wenig hoffnungsvollen Lage nicht nur an den Universitäten lässt sich die Sache wohl weniger mit revolutionärem Pathos als mit tastendem Fragen voranbringen, etwa von der Art: Wie und wo sind die Prozesse des Werdens in diesen neuen Weisen der Subjektivierung und des Wissens zu verketten? Wie kann der Kampf darum geführt werden, dass die Bresche 1968 nicht weiter historiografisch geschlossen wird, sondern neue Breschen ermutigt, auch in immer komplexeren Kontexten? Welches eher enragierte als bloß engagierte Verhalten führt zu einer neuerlichen Instituierung der doppelten Bresche, das heißt zum Protest gegen die neoliberale Transformation der Universität, und über den Protest hinaus zugleich auch zu alternativen Formen der Wissensproduktion, zu neuen Formen der Selbstorganisation der kognitiven Arbeit?

Das ist die Art von Fragen, die sich im kognitiven Kapitalismus aufdrängen, und sie drängen sich immer massiver auf, nicht nur in den Metropolen des "Westens". Und was jedoch das vorläufige Nicht-in-Sicht-Sein neuer Breschen betrifft, weist Lefort in seinem Text von und über 1968 nicht zuletzt darauf hin, dass die "objektive", politische Lage vor dem französischen Mai 1968 schließlich auch keineswegs auf eine revolutionäre Situation hinwies: eine stabile Staatsgewalt, eine expandierende Wirtschaft, eine wirkungslose parlamentarische Opposition, eine Bevölkerung, die sich in ihrer Mehrheit nur in Wahlkampfzeiten für Politik interessierte: "Nein, dies alles kündigte nicht für eine nahe Zukunft Barrikaden in den Straßen von Paris und zehn Millionen von Streikenden an."


Claude Lefort: Die Bresche. Essays zum Mai ´68, übersetzt und eingeleitet von Hans Scheulen, erscheint im Mai in der Reihe es kommt darauf an im Wiener Verlag Turia + Kant.

Gerald Raunig

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