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06 09 07

Ein Hauch von Kritik

Anmerkungen zur Documenta XII

Radical Culture Research Collective


Radical Culture Research Collective (RCRC) ist eine Gruppe von AutorInnen, AktivistInnen, KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen aus Berlin, Hamburg, London (England), Montreal, London (Kanada), New York, San Francisco, Tampa, Weimar und Wien. RCRC beschäftigt sich mit politischen und militanten künstlerischen Praxen und Formen des Widerstands, die auf eine Kritik des kapitalistischen Kunstsystems abzielen.

In den vergangenen Monaten haben wir uns vor allem mit der institutionellen Aneignung und Entschärfung kritischer Theorie und Praxis im Neoliberalismus auseinandergesetzt. Im Folgenden diskutieren wir dies am Beispiel der Documenta XII. Der Aufsatz erschien zuerst im englischen Original in der Zeitschrift Radical Philosophy.


Vom Antikommunismus zur Kulturkritik

Documenta, die weltweit bekannte Megaausstellung für Gegenwartskunst, die alle fünf Jahre in Kassel stattfindet, hat schon immer eine politische Agenda verfolgt. 1955 erstmals von Arnold Bode organisiert, sollte die Documenta der internationalen Kunstwelt signalisieren, dass die dunklen Tage der nationalsozialistischen Kulturlosigkeit endgültig vorbei waren. Deutschlands demonstrative Offenheit für “Avantgarde”-Kunst bestätigte die Zuverlässigkeit der Bonner Republik als Partner der Westalliierten im Kalten Krieg. Doch die demokratische Verfassung, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten hatte, mündete nicht notwendiger Weise auch in einen kritischen Umgang mit der eigenen faschistischen Vergangenheit. In vielerlei Hinsicht setzte die neue Demokratie den Imperativ des Antikommunismus einfach nur mit anderen Mitteln um. So widmete sich die erste Documenta ganz der Rehabilitation der “Entarteten Kunst”. Allerdings ging es dabei höchst selektiv zu: Denn die politisch engagierte Kunst der Linken wurde zu Gunsten abstrakter Werke einfach übersehen. Im spezifisch deutschen Kontext stand die Unterstützung nicht-figurativer Kunst zwar für die Nähe zur “degenerierten Kunst,” wie sie von den Nazis verdammt worden war - ohne dabei allerdings auch die antifaschistische Avantgarde (Grosz, Heartfield, etc.) mit aufzunehmen. Auf internationaler Ebene dagegen spielte die Orientierung an der vor allem in New York ansässigen abstrakten Kunst klar der Kulturpolitik des Kalten Kriegs in die Hände, die dem sozialistischen Realismus eine universelle kapitalistische Kunst entgegensetzte. Mit wenigen Ausnahmen wurde dieses Kulturmodell auch von den Documentas der ersten Jahrzehnte vertreten. Wobei die implizite Logik nationaler Restauration zunehmend kommerzielle Großsponsoren und offizielle Fördermittel anlockte.

Catherine Davids Documenta X (1997) brach zum ersten Mal mit diesem Muster. Denn sie erlegte der Ausstellung eine in dieser Form noch nicht dagewesene Selbstreflektion auf. Indem David die Grenzen des Kunstsystems bewusst überschritt und unzählige kritische TheoretikerInnen in die Ausstellung einband, verwandelte sie die Documenta in eine eindrucksvolle und nachhaltige Reflexion über den Zusammenhang zwischen Politik und Poesie nach 1945. Fünf Jahre später “globalisierte” ihr Nachfolger Okwui Enwezor die Documenta zu einem bis dato ungekanntem Ausmaß. Auch er gab ihr einen stark kritisch-theoretischen Fokus. Die Ausstellung bestand aus vier “Plattformen,” auf denen Probleme nicht-realisierter Demokratie, Wahrheit und Versöhnung, sowie explodierende Mega-Cities in der kapitalistischen Peripherie verhandelt wurden. Wir wollen an dieser Stelle nicht behaupten, dass die Documentas X und XI perfekt oder über jede Kritik erhaben gewesen wären, doch gilt es festzustellen, dass sie mit der bis dahin dominierenden Logik der Kasseler Ausstellung in signifikanter Weise brachen. Allerdings verschreckte keine der beiden Documentas die offiziellen Geldgeber. Statt dessen etablierten sie die kritische Ausstellung als eine legitime und akzeptierte Form der Kulturkritik.

 
Neuer Institutionalismus und der Schein der Kritik

Während David und Enwezor mit der Politik früherer Documentas brachen, indem sie auf das insistierten, was bewusst ausgelassen worden war, kehrt Roger Buergel, der künstlerische Leiter der Documenta XII, im Jahr 2007 zu einem eher traditionellen Fokus auf ästhetische Werte zurück. Rückkehr heißt in diesem Zusammenhang eine Reorientierung an der bürgerlichen Ästhetik, welche die Documentas vor David geprägt hatten. Angekündigt hat Buergel diesen Wandel in der International Herald Tribune: “For this year's Documenta, you don't need a sociology degree to understand the art.” Auf den ersten Blick scheint dies auf eine Zurückweisung der neuen Stoßrichtung, die David und Enwezor in die Documenta eingeführt hatten, hinauszulaufen. Tatsächlich jedoch wurden damit die jüngsten Transformationsprozesse - vor allem die In-Wert-Setzung kritischer Theorie und Praxis - erfolgreich in eine neue, neoliberale Kulturstrategie integriert. Kritikfähigkeit wird beibehalten und ausgestellt, doch nur noch in einer Scheinform. Die Institutionskritik ist zu einem Bestandteil der Institution selbst geworden. Im Ergebnis wird Kritik eingehegt oder gar vorgebeugt: Da die Institution sich bereits als kritisch erwiesen hat, überlässt man ihr geflissentlich die Aufgabe der (Selbst-)Kritik.

Die Documenta ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Sie ist nur eines von vielen Beispiel für den “Neuen Institutionalismus.” In den aktuellen Diskussionen um Praxen des Kuratierens wird das modische Konzept des Neuen Institutionalismus als eine partizipative Strategie der institutionellen Transformation gehandelt. In “The Institution is Dead! Long Live the Institution!” definiert Claire Doherty diesen als eine Tendenz in der Kuratierung, die “einerseits auf die Arbeitsmethoden in der künstlerischen Praxis sowie auf die von KünstlerInnen betriebenen Initiativen reagiert (einige sagen sogar: sie anpasst), dabei andererseits aber das Vertrauen in Galerien, Museen und Kunstzentren beibehält, und diese, indem es beide Seiten miteinander in Beziehung setzt, als notwendige Orte oder Plattformen der Kunst anerkennt.” (eigene Übersetzung, RCRC)

Es stellt sich die Frage, welche Ideologien hier am Werk sind und wie sie bei der Documenta zum Tragen kommen. Ein erstes zentrales Element ist Professionalität, d.h. die Idee, dass Institutionen einen besseren Schutz vor den Kräften des Marktes bieten, als kleine, weniger etablierte Organisationen. Diese werden im Gegenzug als unberechenbar, amateurhaft und oftmals als zu subkulturell und unternehmerisch angesehen. Größere Institutionen gelten auf Grund ihrer Professionalität als geeigneter, um die Standards einer kritischen künstlerischen Praxis zu erfüllen und Öffentlichkeitswirksamkeit zu erzeugen. Ein zweites wichtiges Element ist der Glaube, dass größere, staatlich finanzierte (Kunst- oder andere) Institutionen sich in einer besseren Position befänden, um die Erfolge sozialer Kämpfe von Frauen, Minderheiten und anderen marginalisierten Gruppen zu verteidigen. Dem gegenüber mangele es den kleineren oder ad hoc organisierten Gruppen und sozialen Bewegungen an institutioneller Stärke, gesellschaftlicher Anerkennung, Expertise und Ressourcen. Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen kleineren und größeren Kunstinstitutionen - bzw. analog auf dem Feld sozialer Bewegungen zwischen grassroots-Aktivismus und Basisgruppen einerseits und NGOs, politischen Parteien und dem Staat andererseits - werden tendenziell als unproduktiv und unnötig betrachtet und eher vermieden. Unter den Bedingungen des Neuen Institutionalismus sind selbstorganisierte Initiativen daher tendenziell unsichtbar, überflüssig und unerwünscht.

Aus diesem Grund entwickeln Institutionen wie die Documenta eine hegemoniale Wirkung, die die Bemühungen kleinerer Organisationen und Individuen in sich aufnimmt. Da die Documenta quasi alles in sich vereint, kann sie die Autorität der großen Institution ausspielen und dabei gleichzeitig die (ehemals ihr äußerlichen) kritischen und oppositionellen Positionen der kleineren Gruppen und Organisationen für sich in Anspruch nehmen. Hier können wir die neoliberale Strategie des Konfliktmanagements, sowie der Kooption und Integration von kritischen Gruppen in ein umsichtig kontrolliertes Regime klar erkennen - Tony Blairs “One Big Tent,” in dem Manager und Sozialhilfeempfänger friedlich koexistieren. Konflikt erscheint dabei unproduktiv und ineffizient. Wo er dennoch ausbricht, wird er als Ausdruck von Unreife und Irrationalität betrachtet oder am Ende gar mit “terroristischen Aktivitäten” assoziiert.

 
Kritische Kunst und nicht-ökonomisches Kapital

Die Documenta ist ein gutes Beispiel für den ambivalenten Status gesellschaftlich hoch angesehener, nicht-marktförmiger Events; und zwar vor allem Hinblick auf die Funktionen des nicht-ökonomischen Kapitals. Im Fall der Documenta XII lässt sich dies gut am Zeitschriftenprojekt verdeutlichen, zu dem 90 unabhängige Kunst- und Theoriezeitschriften eingeladen wurden, die ohne finanzielle Vergütung an dem Projekt teilnahmen. An Stelle von Geld erhielten sie andere Anerkennungen, die sich zusammenfassend als nicht-ökonomische Formen des Kapitals - also als symbolisches, soziales oder kulturelles Kapital - charakterisieren lassen.

Ursprünglich von Bourdieu entwickelt, ist das Konzept des nicht-geldförmigen Kapitals ein analytisches Instrument zur Untersuchung von Klassenverhältnissen. Die Popularisierung des Begriffs durch Richard Florida und andere hat aus ihm eine klassenneutrale Kurzformel für den Nonprofit-Sektor gemacht. Heute wird Bourdieus Terminologie vor allem dazu benutzt, um Ausbeutungsbeziehungen zu verschleiern und zu normalisieren - und sie trägt dazu bei, ausbeuterische Verhältnisse auch innerhalb kritischer Arbeitszusammenhänge, wie etwa bei der Documenta, hoffähig zu machen.

Als Redakteurin von MALMOE hat eine der AutorInnen dieses Texts an einer kritischen Antwort auf das Zeitschriftenprojekt der Documenta XII mitgeschrieben (siehe MALMOE Nr. 38). Die nachfolgenden Anmerkungen sind wesentlich von dieser kritischen Auseinandersetzung geprägt. Bei den meisten Journalen und Magazinen, die am Zeitschriftenprojekt mitgewirkt haben, handelt es sich um kleine, eher marginale, nicht-Profit-orientierte oder anderweitig prekäre Organisationen. Doch sind gerade diese potentiell eben immer auch “Erfolgsprojekte” - hip und radikal. Für die meisten von ihnen kommt es kaum in Frage, ein Angebot abzulehnen, das ihnen Öffentlichkeit und Sichtbarkeit vermittelt. Ganz besonders trifft dies auf eine Einladung zur Documenta zu, die den Ruf genießt, die kritischste und ernsthafteste aller internationalen Kunstausstellungen zu sein - sie setzt die globalen Standards für kritische Theorie und Praxis. Der Ruf, den die Documenta über die Jahrzehnte erworben hat - und den wir als akkumuliertes nicht-ökonomisches Kapital bezeichnen können - bildet das wesentliche Element für die Mixtur an Erwartungen und Wünschen, die die Kasseler Ausstellung zu einem hoch gehandelten künstlerischen Markennamen macht.

Für kleine und prekäre kritische Publikationen ist es daher ganz offensichtlich schwierig, einer Einladung zur Documenta distanziert zu begegnen. Die meisten werden einwilligen, in ihrem Rahmen auch umsonst zu arbeiten, “content” für die Documenta zu produzieren und damit indirekt zum kritischen Ruf der Ausstellung beizutragen. Denn im Gegenzug eröffnet sich ihnen möglicher Weise die Chance, ihre Documenta-Teilnahme später in Geld oder Zukunftschancen zu verwandeln. Mittelbar oder unmittelbar führt diese Form des Tauschs dazu, dass umstrittene Formen der Kritik - vor allem radikaler oder gar anti-institutioneller Art - tendenziell einer Selbstzensur zum Opfer fallen. Denn wer soziales Kapital erwerben will (Beziehungen, Gelegenheiten, Angebote), der sollte “gutes Benehmen” an den Tag legen, zumindest “keinen Ärger machen” und den eigenen Platz in der Community nicht gefährden. KünstlerInnen aus Wien, wo das Epizentrum der diesjährigen Documenta-Organisation lag, mussten in diesem Zusammenhang in der lokalen Szene die einschlägigen Erfahrungen machen: man kennt die beteiligten Leute, man ist Teil der gleichen Netzwerke, schätzt sich gegenseitig oder hängt gar voneinander ab. Das macht es schwierig, die kritischen Standards aufrecht zu erhalten, die man bei anderen Gelegenheiten anlegt. Dass der kritische Impetus des Zeitschriftenprojekts nicht besonders tief ging, hat darüber hinaus noch andere Gründe, z.B. die Art und Weise der Präsentation: Die Zeitschriften und Magazine lagen auf der Documenta nicht etwa lesefreundlich aus, sondern wurden vielmehr wie Objekte ausgestellt.

 
Risikoauslagerungen

Neuen Formen des kapitalistischen Managements liegt oft eine doppelte Bewegung zu Grunde: einerseits eine Konzentration von Macht und Kontrolle im Kernunternehmen und andererseits eine Verteilung und Auslagerung “kreativer Arbeit” an kleinere Firmen und Individuen. Letztere zeigen eine größere Risikobereitschaft, sie arbeiten eher projektbasiert und unter den Bedingungen deregulierter Arbeitsstandards. In der Konsequenz können große Konzerne sich vor Marktrisiken tendenziell abschirmen und diese an Individuen, kleine Gruppen und ProjektarbeiterInnen weitergeben. Zu ähnlichen Formen der Risikoauslagerung kommt es, wenn Arbeitprozesse, die zuvor von gut ausgebildeten und fest angestellten MitarbeiterInnen durchgeführt wurden, via Ausschreibungen, Wettbewerben und anderen “Reality-TV-artigen” Mechanismen an unbezahlte Arbeitskraftpools ausgelagert werden. Bei Institutionen auf dem Nonprofit-Sektor verhält es sich nicht unbedingt anders.

Große und mächtige Kunstinstitutionen wie die Documenta, die Tate Modern, das Van AbbeMuseum oder das Museu D'art Contemporani de Barcelona können daher sowohl gesicherte als auch riskante Formen kultureller Produktion für sich beanspruchen. Dazu werden unabhängige Kulturprojekte via Netzwerke in größere Institutionen eingebettet. Im Ergebnis verlieren diese dabei oft ihren oppositionellen oder alternativen Charakter. So beobachten die Euromayday-AktivistInnen aus Hamburg, dass Institutionen heute “zentrale Mechanismen selbstorganisierter Projekte aufnehmen,” indem sie diese inkorporieren. Auf diese Weise werden marginalisierte und neu entstehende Arbeits- und Projektzusammenhänge ausgebeutet, oder genauer: es werden die Bedingungen für eine Selbstausbeutung geschaffen.

Am Ende stellt sich die Frage, warum die Zeitungen und Magazine, die an dem Zeitschriftenprojekt der Documenta teilnahmen, nicht in der Lage waren, die Strategie der Risikoauslagerung gemeinsam zu reflektieren und kollektiv darauf zu reagieren. Auch gilt es darüber nachzudenken, warum wir meinen - wie oben ausgeführt - derlei Angebote nicht ablehnen zu können (oder mit anderen Worten: warum wir über unsere eigene Arbeit und den symbolischen Wert, den sie für große Institutionen haben mag, nicht autonom verfügen können). Eine erste Antwort lautet, dass es in einer zunehmend kompetitiven und prekären Gesellschaft so scheint, als würde jede noch so kleine Anerkennung möglicher Weise auch zu finanzieller Sicherheit führen. Folgt man dieser Logik, ist die Ablehnung eines attraktiven Angebots eine geradezu selbstmörderische Geste.

Dass Ausbeutung und Selbstausbeutung im Kunst- und Kulturbereich so weit verbreitet sind, weist auf die Notwendigkeit einer systematischen Analyse hin, die uns ein Verständnis dieser Prozesse im Kontext des gegenwärtigen globalen Kapitalismus ermöglicht. Und da wir das Spiel so bereitwillig mitspielen und dabei das Gefühl haben, uns bliebe keine andere Wahl, ist die Suche nach Alternativen drängend. Es gilt also, andere Wege zu suchen, diese zu artikulieren und auszuprobieren: Dabei mag unbequeme Kritik auch mit einem Rückzug aus dem etablierten Kunstbetrieb einhergehen und unser “symbolisches Kapital” auf's Spiel setzen. Zwar wünschen sich die meisten von uns Anerkennung von unseren KollegInnen. Doch diese Anerkennung muss nicht notwendiger Weise in einer kompetitiven Form erworben werden und ihren Ausdruck finden. Dass das Kunstsystem so strukturiert ist, ist ein Effekt von institutioneller Organisation und Marktlogik.

Wollen wir Alternativen formulieren und aus historischen Erfahrungen lernen, müssen wir Formen finden, unsere Wünsche nach Anerkennung auch solidarisch zu erfüllen anstatt uns um die Krümel zu streiten. Wie können wir uns kollektiv organisieren, so dass diejenigen, die “nicht mitspielen” wollen, die Konsequenzen nicht allein zu tragen haben? Was lässt sich von sozialen Bewegungen und aus der Geschichte sozialer Kämpfe lernen, so dass kritische Theorie und Praxis sich nicht auf kuratorische Themen und Seminartitel beschränken, aus denen weiter nichts folgt? In unseren zukünftigen Texten wollen wir versuchen, Antworten auf diese und ähnliche Fragen zu finden.

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